Liebe Nichtwählerin*,

Lieber Nichtwähler*,

du hast es sicher mitbekommen: Am 24. September findet in Deutschland wieder eine Bundestagswahl statt. Bereits zum 19. Mal. Aber das ist dir egal, denn du hast nicht vor, am Wahlsonntag zwei stilsichere Kreuzchen, nur vier Striche, auf ein Blatt Papier zu zeichnen. Du hast die Politik mit ihren elitären Politiker*innen satt, du bist unzufrieden, fühlst dich verarscht und vergessen. Du möchtest dieses festgefahrene System nicht unterstützen, diese Gedönsminister*innen kriegen ja doch nichts auf die Reihe. Richtig?

Das stimmt alles.

Für dich zumindest, wenn du es so wahrnimmst. Dann ist dein Verdruss legitim und deine Süffisanz nachvollziehbar. Schon der alte Gramkopf Berthold Brecht sagte: "Wenn Wahlen irgendwas am System verändern würden, dann wären sie längst verboten." Das Problem dabei ist, dass eine derartige Einstellung widersinnig ist. Aber mehr dazu gleich.

Erst muss ich dir eine Frage stellen, die dich wohl nerven wird

Ja, du wirst die Augen verdrehen und ja, du hast sie schon tausendmal gehört. Hier kommt sie trotzdem:

Weißt du eigentlich, wie privilegiert du bist?

Du hast eine Wahl! Mehr noch: Du hast das gesetzlich verankerte Recht, eine Wahl zu haben. Genau genommen ist das ziemlich geil. Millionen von Menschen würden alles dafür tun, um in ihrem Land ein bisschen mitentscheiden zu dürfen. Aber sie haben keine Wahl. Sie müssen essen, was auf den Tisch kommt, sei der*die Köch*in noch so ekelhaft. Sind die Menschen mit ihrem*r Chefköch*in aber unzufrieden, werden sie ignoriert, unterdrückt, bestraft, indoktriniert oder noch Schlimmeres. Aber abwählen, wie wir das können, können sie niemanden. Ihnen steht kein kleines Kreuzchen zur Verfügung.

Du hast dieses Kreuzchen, liebe Nichtwählerin* und lieber Nichtwähler*, und das solltest du am Wahlsonntag stolz einsetzen. Warum? Weil du es kannst und alles andere widersinnig ist. Ich will dir sagen, warum.

Du stimmst mit Brecht überein, dass Wahlen ohnehin nichts verändern? Damit liegst du eigentlich gar nicht so falsch. Aber nicht weil grundsätzlich gewählt wird, sondern weil ein Großteil der wählenden Menschen immer dieselben Parteien wählen. Aus Gewohnheit, aus Unkenntnis, aus Faulheit, weil es ihnen die Eltern so ins Gehirn gewaschen haben, warum auch immer. Aber weißt du was, liebe Nichtwählerin* und lieber Nichtwähler*? Bei der Bundestagswahl vor vier Jahren warst du mit deinen fast 18 Millionen nicht wählenden Kolleg*innen unter allen Wahlberechtigten in der größten Gruppe. Ihr hattet mehr Stimmen als eine einzelne Partei mit Zweitstimmen überhaupt erreicht hat. Stell dir vor, was ihr mit so vielen Stimmen hättet anfangen können. Ihr hättet genügend Stimmenstärke, um das monotone Wahlverhalten der anderen aufzubrechen und Bewegung in die Politik zu bringen. Willst du so eine Chance noch mal verpassen? Geh wählen!

Von keiner Partei vertreten?

Das überzeugt dich nicht, weil du dich von keiner Partei wirklich vertreten fühlst. Du weißt daher so oder so nicht, für wen du die Macht deines Kreuzchens einsetzen solltest, richtig? Ganz ehrlich, da musst du durch. Deswegen nicht wählen zu gehen, grenzt an Egozentrik. Oder Arroganz. Oder beides.

Bei der Auswahl eines geeigneten Studiums oder einer geeigneten Lehre ist es doch ähnlich. Jedes Ausbildungsprogramm wird ein oder mehrere Fächer haben, die dich langweilen, die dich nerven, die du am liebsten nicht besuchen würdest. Um an den Abschluss zu kommen, musst du sie trotzdem ablegen. Dasselbe gilt für die Politik. Keine der antretenden Parteien wird dir zu 100 Prozent zusagen, kein Wahlprogramm wird dir von der ersten bis zur letzten Seite aus der Seele sprechen. Wie kann es auch? In Deutschland leben mehr als 82 Millionen unterschiedliche Menschen, mehr als 61 Millionen davon sind wahlberechtigt.

Die Parteien versuchen mit ihren Programmen die Bedürfnisse von so vielen wie möglich davon abzudecken."

Jemand, der ausschließlich kompromisslos wählt, kann niemals wählen. Oder niemals arbeiten. Wer das verlangt, verlangt Unmögliches. Unter den 48 antretenden Parteien findest du sicher eine, die deinen persönlichen Interessen am nächsten kommt. Geh wählen!

"Aber die Entscheidung ist so schwierig!"

Höre ich da ein Mimimi? Wer sich der Verantwortung seines Kreuzchens bewusst ist, der muss auch Arbeit reinstecken. Damit ist mehr gemeint, als nur auf dem Weg ins Kino ein paar Wahlplakate zu lesen. Bequemlichkeit ist weder ein Grund, nicht zu wählen, noch eine Ausrede dafür, dass es sowieso keine Unterschiede zwischen den einzelnen Parteien gäbe.

Jede Partei – zumindest jede der acht sogenannten etablierten Parteien – hat ein frei zugängliches Wahlprogramm veröffentlicht, in dem die kurz- und mittelfristigen Ziele für die kommende Legislaturperiode beschrieben sind. Klar, du hast keine Lust, all diese trockenen Erzählungen komplett durchzulesen. Aber gerade um das zu umgehen, gibt es schließlich das Internet. Es ordnet dir die Programme nach Schlagworten und vergleicht sie. Liegt dir ein Thema besonders am Herzen, kannst du zum Beispiel hier schnell herausfinden, wer dein Kreuzchen am ehesten verdient. Kein Kreuzchen ist ansonsten ein Kreuzchen für die falsche Partei. Geh wählen!

Nichtwählen aus Protest?

Das weißt du alles. Du gehst trotzdem nicht wählen. Aus Protest. Du möchtest dem System zeigen, wie unzufrieden du bist, indem du dich deiner Stimme enthältst. Am liebsten gleich das ganze System umwerfen, oder? Dein Ärger wird sich dadurch allerdings nicht lösen. Im Gegenteil, er wird sich verschlimmern.

Detlef Wetzel, erster Vorsitzender der IG Metall, hat es richtig gesagt: "Wer nicht wählt, wird trotzdem regiert." Nichtwähler*innen unterstützen automatisch die Regierungsparteien, die sich natürlich über eure Nichtstimme freuen. Denn sie kommen so einfacher an die Mandate und ihr seid umso verärgerter. Erst wenn wirklich niemand, kein einziger Mensch wählen würde, würde aus deinem Wunschdenken Realität werden. Aber davon überzeuge mal sämtliche Wahlberechtigten dieses Landes. Ohne politisches System gäbe es dann aber auch keine Herrschaft, keine Macht mehr. Niemand kann jetzt noch über irgendetwas bestimmen, niemand kann jemandem wegen einer Rechtsverletzung zur Verantwortung ziehen. Geld gibt es auch keines mehr, weil Geld Macht bedeutet.

Bist du dir sicher, dass du in einer Anarchie mit mehr als 82 Millionen Menschen leben willst? Gerade eine funktionierende Demokratie verhindert, dass die Schwachen von den Starken gefressen werden. Geh wählen!

Kreuz ungültig machen?

Protest ausdrücken, indem du ungültig wählst? Bringt nichts. Du kannst ein noch so großes "Leck mich!" oder "Merkel ist scheiße!" auf den Wahlzettel schreiben, niemand außer den Wahlhelfer*innen vor Ort kriegt das zu Gesicht und die werden es ziemlich sicher auch nicht weiterreichen. Es wird auch nirgends festgehalten, warum eine Stimme ungültig ist. Und letzten Endes freuen sich wieder nur die Großparteien darüber. Rechnerisch gesehen profitieren davon nämlich alle Parteien, die man nicht gewählt hätte, und zwar proportional zu ihrem Stimmenanteil.

Eine ungültige Stimme ist genauso wie eine Nichtstimme keine Gegenstimme und kostet keine Prozentpunkte. Übrigens drückst du durch ungültiges Wählen auch nicht die Wahlbeteiligung. Die setzt sich nämlich sowohl aus gültigen und ungültigen Stimmen zusammen. Geh richtig wählen!

Okay, Schluss jetzt

Entweder ich konnte dich, liebe Nichtwählerin* und lieber Nichtwähler*, bis zu diesem Punkt davon überzeugen, wählen zu gehen oder das Brett vor deinem Kopf war doch zu dick. Niemand zwingt dich zu wählen. Es ist dein Recht und das kannst du einsetzen wie du willst. Sei dir nur bewusst, dass dein Kreuzchen mächtiger ist, als du vielleicht denkst. Hast du es eingesetzt, verschaffst du dir allerwenigsten das Recht zu Jammern.