Meine Nichte ist gerade mal fünf Jahre alt gewesen, als wir an einem heißen Tag neben dem Schwimmbecken standen und hektisch nach ihrem Bikini in der Badetasche suchten. Sie hüpfte unruhig auf und ab. Ich räumte die gesamte Tasche gerade ein zweites Mal aus, fand aber nur eine rosa Badehose mit weißen Rüschen. Ich hielt sie ihr entgegen und sie sah mich mit großen Augen an: "Und das Zweite?" Ich konnte das Oberteil nicht finden. "Das brauchst du eh nicht", erklärte ich ihr. Einerseits aus der Not heraus, weil mir dämmerte, dass wir es vermutlich zu Hause vergessen hatten und andererseits, weil sie ein Kind ist. Wozu also ein nerviges Bikinioberteil?

"Aber die anderen haben es auch" erwidert sie und zeigte auf die Mädchen im Wasser, die in ihren Badeanzügen und zweiteiligen Bikinis in Pink, mit Elsa-und-Anna-Motiven, Rüschen und Strass herumliefen. Ich antwortete ihr: "Na und? Wir machen das anders." Sie grinste versöhnlich und wir gingen ins Wasser.

Kollektion my first bra für 7- bis 13-Jährige

Ich erzähle diese Geschichte, denn in Großbritannien verkauft der Textildiscounter Primark nun BHs für Mädchen ab sieben Jahren – gepolstert und formgebend. Sieben Jahre, das sind zwei Jahre ältere Kinder als meine Nichte. Das sind Mädchen, die seit einem Jahr die Schule besuchen, gerade Lesen und Schreiben lernen. Sie sollen bereits die Zielgruppe für BHs sein? Die Textilkette bekommt dafür viel Ärger im Netz. Eltern beschwerten sich in sozialen Netzwerken über die Kollektion my first bra und die Sexualisierung von Kindern.

Auf Anfrage von Business Insider erklärte ein Unternehmenssprecher der Kette: "Die BHs sind ausschließlich formgebend, nicht jedoch gepolstert. Die my first bra-Produktreihe hat eine stützende Funktion und dient dem Tragekomfort, ist dabei im Design zurückhaltend und entspricht den Richtlinien für Kinderbekleidung des British Retail Consortiums. Es ist keine optische Vergrößerung vorgesehen. Diese Produktart formgebender BHs ist weit verbreitet und der Verkauf eine normale Praxis im Einzelhandel."

Mädchen müssen nicht Rosa mögen und Prinzessin werden

Ich habe keine Kinder, trotzdem macht mich dieses Angebot wütend. Irgendwann werde ich ein Kind haben und ich will nicht, dass meine Nichte sowie mein fiktiver zukünftiger Sprössling in einer durch und durch sexualisierten Welt aufwachsen, in der Kindern eingeredet wird, dass sie ihre Brust bedecken oder gar formen müssten.

Man kann sich an dieser Stelle über den Textildiscounter aufregen. Sollte man auch. Aber auch die Eltern, die ihren Kindern diese BHs kaufen, trifft eine Mitschuld. Sonst gäbe es die Nachfrage wohl nicht. Mädchen kommen nicht mit geschlechterspezifischen Gedanken auf die Welt, sondern unsere Gesellschaft prägt sie. Wir reden Mädchen ein, dass sie Rosa mögen, einmal Prinzessin werden wollen, zeigen ihnen Filme mit magersüchtigen Disney-Figuren und geben ihnen Barbies zum Spielen, deren Körper nicht überlebensfähig wären. Wenn sie dann während des Erwachsenwerdens Komplexe bekommen, weil sie anders aussehen, wundern wir uns, warum sie sich nur über ihr Aussehen definieren.

Kinder lieben Vorbilder. Sie werden ihren Müttern, Vätern, älteren Geschwistern, Tanten und Onkeln immer alles nachmachen wollen. Das gehört zum Prozess des Erwachsenwerdens und ist ganz normal. Darum liegt es auch in der Verantwortung der Bezugspersonen, ihren Kindern zu erklären, warum sie manche Dinge nicht brauchen, oder vielleicht auch nie brauchen werden. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Reizthema Kopftuch. In Österreich sind Fälle in Schulen öffentlich geworden, in denen bereits sechsjährige Mädchen Kopftuch tragen. Oftmals mit der Begründung, dass sie es tragen wollen, weil sie es bei der Mutter sehen.

Einmal um die Ecke gedacht, ist auch der Büstenhalter so ein Thema. Junge Mädchen wollen einen BH tragen, weil sie ihn bei anderen sehen. So werden sie bereits im Kindeshalter sexualisiert und eine normale Entwicklung ihrer Sexualität manipuliert. Ich selbst bin in der Ära der Snoopy-BHs aufgewachsen, die wir mit Kloapier auf dem Schulklo ausgestopft haben, damit irgendetwas gepusht wird. Das Bild von prallen Brüsten im Büstenhalter haben wir uns mit Sicherheit nicht gegenseitig vermittelt, da niemand von uns damals Brüste hatte. Wir waren jedoch älter als die Zielgruppe der Primark-BHs – zwölf oder 13 Jahre.

Sexualisierung kann krank machen

Schönheitsideale, die uns in jungen Jahren eingeredet werden, sind unglaublich schwer wieder loszuwerden. Eine von der American Psychological Association veröffentlichte Studie bestätigt das. Die zunehmende Sexualisierung in den Medien und in der Werbung habe bedenkliche Folgen für das gesundheitliche Wohlergehen und die psychosoziale Entwicklung vieler junger Mädchen. In dem Bericht werden Untersuchungen angeführt, die zeigen, in welchem Maße die Sexualisierung in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat. Besonders problematisch erscheint den Psycholog*innen, dass zunehmend Kinder zu direkten Adressaten der Werbebotschaften gemacht werden.

In vielen Fällen führt das zu einem mangelhaften Selbstwertgefühl sowie zu einem negativen Selbstbild und auf längere Sicht sogar zu gesundheitlichen Krisen. Es wird zudem eine Studie zitiert, in der Tagebücher junger Mädchen aus den letzten 100 Jahren ausgewertet wurden. Diese führen vor Augen, dass Mädchen ihr Erwachsenwerden früher vorwiegend durch Fortschritte in der Schule und eine Erweiterung ihrer Kenntnisse beschrieben, in den letzten 20 Jahren jedoch vornehmlich über körperliche Veränderungen und Verbesserungen ihrer Attraktivität. Aufgrund von fehlenden Vorbildern definieren sich junge Mädchen also heute stärker über ihr Aussehen, als über ihr Wissen und Können.

"Wir haben eine Vielzahl von Beweisen dafür, dass die Sexualisierung von Mädchen heute negative Auswirkungen in den verschiedensten Bereichen hat. Dazu gehört die kognitive Funktion, die geistige und körperliche Gesundheit und die Entwicklung einer gesunden Sexualität", sagte die Psychologin Eileen Zurbriggen von der Universität in Kalifornien der BBC.

Darum können wir die neue BH-Kollektion von Primark auch nicht einfach ignorieren und mit dem Argument abtun, dass sie ja niemand kaufen müsse. Allein dass es sie gibt, ist der Beweis dafür, dass so einiges falsch läuft. Darum sollten wir uns dafür einsetzen, dass Kinder wieder einfach Kinder sein dürfen. Mädchen im Grundschulalter brauchen keinen BH und können ohne Zweifel in der Badehose schwimmen gehen – genauso wie die Jungs in ihrem Alter. Denn sie sind verdammt noch mal Kinder und keine kleinen Erwachsenen.