In Frankfurt hat das Verfahren im Mordfall des Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke begonnen. Die Sprecherin der Initiative NSU Watch, Caro Keller, war bei den ersten Verhandlungstagen dabei. Ein Interview

"Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, kann dieses Land jederzeit verlassen."

Es sind diese Worte des Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) auf einer Info-Veranstaltung für ein Heim für Asylsuchende in der nordhessischen Gemeinde Lohfelden im Jahr 2015, die ihm zum Verhängnis werden. So begründet zumindest der Rechtsextremist Stephan Ernst kurz nach seiner Verhaftung unter anderem, warum er Lübcke am 2. Juni 2019 auf dessen Terrasse aus nächster Nähe erschoss. Erstmals wurde damit im Nachkriegsdeutschland ein Politiker offenbar von einem Rechtsextremisten ermordet.

Gut ein Jahr später wird seit dieser Woche der Fall am Oberlandesgericht in Frankfurt am Main verhandelt. Der Hauptangeklagte Stephan Ernst hat sein ausführliches Geständnis mittlerweile widerrufen. Stattdessen beschuldigt er den Rechtsextremisten Marcus H., auf Lübcke geschossen zu haben. H. ist ebenfalls angeklagt wegen "psychischer Beihilfe" zum Mord. Laut Generalbundesanwalt soll er Ernst bei dessen Tat unterstützt haben, ihm zum Beispiel das Schießen beigebracht haben. Verhandelt wird außerdem über den Mordversuch an Ahmad E. Stephan Ernst soll den Asylsuchenden aus dem Irak Anfang 2016 in Lohfelden auf offener Straße mit einem Messer niedergestochen haben. E. wurde dabei schwer verletzt.

Caro Keller ist Sprecherin von NSU Watch und war bei den ersten beiden Prozesstagen vor Ort. Die Initiative wird – wie bereits den NSU-Prozess in München – auch das Verfahren im Fall Lübcke kritisch begleiten. Für ihr Engagement wurde NSU Watch bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Otto-Brenner-Preis. Im Interview mit ze.tt spricht Caro Keller über die Bedeutung des Verfahrens, Verbindungen zum NSU und Versäumnisse der Behörden.

ze.tt: Frau Keller, viele haben nach dem Mord an Walter Lübcke und auch jetzt zum Prozessauftakt von einem Fanal, von einer Zäsur gesprochen. Welche Bedeutung hat das Verfahren aus Ihrer Sicht?

Caro Keller: Natürlich müsste dieser Mord genau das sein. Genauso wie die Morde des NSU dieses Fanal hätten sein müssen oder das Oktoberfestattentat 1980 oder der Brandanschlag von Mölln 1992. Mit jedem dieser rechtsterroristischen Anschläge müsste rechtem Terror eigentlich ein Ende gesetzt werden. Aber dafür muss tatsächlich gehandelt werden. In der Gesellschaft muss sich etwas ändern, damit es eben nicht nur bei diesen Worten bleibt. Und da wir viele weitere Tote durch rechten Terror seit dem Mord an Walter Lübcke zu beklagen haben – weltweit, aber

auch nach dem antisemitischen und rassistischen Anschlag von Halle und dem rassistischen Attentat in Hanau – habe ich da meine Zweifel. Genauso wie der Mord an Walter Lübcke hätte verhindert werden können, hätten auch die Anschläge von Halle und Hanau verhindert werden können.

Welche Lehren hätten denn dafür beispielsweise aus dem NSU-Komplex gezogen werden müssen?

Erst einmal: Wenn die Morde des NSU komplett aufgeklärt worden wären, hätte die Verbreitung von rechter Ideologie zurückgedrängt werden können. Die Gesellschaft hätte das aufarbeiten müssen, Medien müssten anders berichten, die Behörden anders arbeiten, man müsste sich institutionellem Rassismus in der Polizei und der Verantwortung des Verfassungsschutzes widmen. Genau das ist nicht geschehen.

Stattdessen diskutieren wir derzeit wieder, ob es überhaupt Rassismus und institutionellen Rassismus in Deutschland gibt – eine Diskussion, die überhaupt nicht auf der Höhe des Wissensstandes ist. Man weiß, wie rechter Terror funktioniert, man weiß auch, wie man ihn verhindern kann: Neonazi-Netzwerke aufdecken und entwaffnen, Betroffenen glauben, die sagen, dass sie von Neonazis angegriffen werden. Aber es wird ihnen eben nicht geglaubt. Ganz konkret im Fall Lübcke: Ahmad E. wurde drei Jahre zuvor angegriffen. Damals hatten die Behörden Stephan Ernst schon verdächtigt, aber den Fall nicht wirklich gelöst – obwohl Ahmad E. darauf aufmerksam gemacht hat, dass der Angriff auf ihn einen rassistischen Hintergrund haben könnte. Er wurde nicht ernst genug genommen. Da hat sich seit dem NSU nicht viel geändert und das ist wirklich ein Skandal.

Wenn man rechten Terror nicht komplett aufklärt, drohen weitere Morde. Dann ermutigt man weitere Personen.
Caro Keller, Sprecherin von NSU Watch

Sie haben in diesem Zusammenhang auch die Anklage des Generalbundesanwalts kritisiert. Warum?

Es ist zumindest offen von dem rassistischen, völkischen und rechten Motiv der Taten die Rede. Das ist gut. Aber gleichzeitig fokussiert die Anklage sehr stark auf Stephan Ernst und Markus H. und was fehlt ist – wie im NSU-Prozess – das Netzwerk, das Umfeld und die Verantwortung der Behörden, die ja schon sehr offen zu Tage tritt, auch wenn noch nicht alle offenen Fragen beantwortet sind. Das alles hat den Mord ermöglicht, wird aber mit dieser Anklage nicht umfasst. Wenn man rechten Terror nicht komplett aufklärt – auch das wissen wir seit dem NSU-Komplex –, drohen weitere Morde. Dann ermutigt man weitere Personen, die ähnliche Taten wie Stephan Ernst umsetzen wollen.

Angeklagt ist neben Stephan Ernst auch der Rechtsextremist Markus H., der sich noch 2015 gerichtlich eine Waffenbesitzkarte erstritten hat – der Verfassungsschutz hatte der Waffenbehörde keine Hinweise auf H.’s rechtsextremistischen Umtriebe weitergeleitet. Der LfV-Präsident sagt, er habe dafür keine Erklärung. Haben Sie eine?

Der LfV-Präsident sagt auch nicht, dass es ein Fehler war, und wenn es kein Fehler war, dann war es offensichtlich Absicht. Es heißt auch, dass es keine sogenannte Panne war, wobei ich in dem Zusammenhang überhaupt nicht von Pannen sprechen würde. Das muss nun aufgearbeitet werden. Der Punkt ist nicht nur, wie der Verfassungsschutz handelt, sondern auch warum er so handelt. Es muss geklärt werden, inwiefern Markus H. mit dem Verfassungsschutz involviert war. Was wir wissen, ist, dass versucht wurde, ihn anzuwerben. Dieser Versuch sei gescheitert. Das Verhalten des Verfassungsschutzes ist sehr auffällig. Ich denke da gleich an Quellenschutz, wo sich die Behörde vor Neonazis stellt.

NSU Watch und andere haben wiederholt auf die Verbindungen des Mordfalls Lübcke zum NSU-Komplex in Hessen hingewiesen. Auch hier spielt der Verfassungsschutz eine wichtige Rolle.

Die beiden jetzt Angeklagten stammen aus demselben Neonazi-Milieu, das auch in den Blick gerät, wenn man sich die Frage stellt, wer eigentlich den Mord an Halit Yozgat 2006 in Kassel mitzuverantworten hat. Das Neonazi-Netzwerk des NSU ist ja immer noch nicht aufgedeckt, aber wir gehen davon aus, dass es an jedem der Tatorte Helferinnen und Helfer gab. 2015 hat der hessische NSU-Untersuchungsausschuss auch Fragen nach Stephan Ernst und Markus H. gestellt. Ernst tauchte in Akten des Verfassungsschutzes mit dem Vermerk "brandgefährlich" auf.

In Kassel gibt es ein Neonazi-Milieu, von dem wir wissen, dass V-Männer unterwegs sind. Zum Beispiel der V-Mann Benjamin Gärtner, den der Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme führte, der sich wiederum zur Tatzeit des Mordes an Halit Yozgat in dessen Café aufhielt. Es gibt viele Verbindungen, bei denen man noch nicht genau weiß, wie sie funktioniert haben. Es ist extrem wichtig, dass genau das aufgeklärt wird. Denn dieses Milieu ist weiterhin gefährlich. Wir sprechen von Milieu, weil die Personen nicht in Organisationen oder Parteien sein müssen, sondern man kennt sich seit Jahren und ist eben im Zweifel auch bereit, sich bei rechten Gewalttaten zu unterstützen.

Es sind zwar Einzelne oder einzelne Gruppen, die zur Waffe greifen und diese Taten tatsächlich umsetzen. Aber diesen Leuten wird der Rücken gestärkt von einer gesellschaftlichen Stimmung.
Caro Keller, Sprecherin NSU Watch

Warum ist für Sie als NSU Watch wichtig, den Prozess zu begleiten?

Wir machen eine antifaschistische Prozessbeobachtung. Das heißt, wir sind parteiisch auf der Seite der Nebenklage, der Betroffenen, der Angehörigen und machen das auch deutlich. Bei uns wird man nichts über die Gefühlslagen der Täter finden – nur wenn es wichtig ist, um sie zur Verantwortung zu ziehen. Wir versuchen zum einen, der Öffentlichkeit Informationen zur Verfügung zu stellen, und wenn das größere Interesse abflaut, sind wir weiterhin da. Zum anderen wollen wir mit unserem eigenen Wissen und Analysen die Aufklärung weiter vorantreiben – mit der Hoffnung, dass sich Menschen dafür interessieren und auch etwas gegen Rassismus und die Neonazi-Szene tun wollen.

Zumindest scheint es ja derzeit ein wachsendes Bewusstsein für Rassismus und Rechtsextremismus zu geben.

Das beobachten wir auch. Mit jedem Fall, ob in Deutschland oder weltweit, gibt es immer größeres Interesse und Entsetzen. Und natürlich ist das eine sehr gute Entwicklung, die – so hoffen wir – auch zu Veränderungen führen kann. Die Gesellschaft spielt eine sehr große Rolle bei rechtem Terror. Es sind zwar Einzelne oder einzelne Gruppen, die zur Waffe greifen und diese Taten tatsächlich umsetzen. Aber diesen Leuten wird der Rücken gestärkt von einer gesellschaftlichen Stimmung – wenn sie sehen, wie rassistische Sprache sagbarer wird, wie Akteure der AfD in Talkshows sitzen, wie erfolgreich Pegida ist. Sie denken, sie seien die, die mutig im Namen des Volkes vorangehen, und diese Fantasie muss man ihnen nehmen. Das ist die Rolle, die uns als Gesellschaft zukommt. Wo große antirassistische Demos stattfinden, fühlen sich nicht Rechtsterroristen bestärkt, sondern hoffentlich Betroffene von Rassismus, Antisemitismus und rechter Gewalt. Genau das ist wichtig: die Solidarität mit Betroffenen.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass der Mord an Walter Lübcke und seine Hintergründe aufgeklärt werden?

Von alleine wird das sicherlich nicht passieren, aber da wir und andere einen aufmerksamen Blick darauf haben und es ein größeres gesellschaftliches Interesse gibt, kann dort tatsächlich aufgeklärt werden. Man darf nur nicht nachlassen. Das wissen wir auch vom NSU-Prozess: Immer dann, wenn es Druck gab, sind mehr Details ans Licht gekommen. Das ist eine Aufgabe, der wir alle gemeinsam als solidarische Menschen, als interessierte Öffentlichkeit nachkommen können. Zu zeigen: Wir wollen das wissen. Wir wollen den Staat nicht aus der Verantwortung lassen, aber wir wissen eben auch, dass wir uns auf die Behörden nicht verlassen können. Deshalb betone ich die gesellschaftliche Komponente so stark. Wir haben einen großen Handlungsspielraum, den wir als Gesellschaft ausnutzen sollten.

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