Hätte Małgorzata Gersdorf klein beigegeben, könnte sie heute in Ruhe ihre Rente genießen. Aber Małgorzata Gersdorf ist keine, die klein beigibt – vor allem nicht, wenn es um die Demokratie geht. Die Frau mit den kurzen blonden Haaren und der schwarzgerahmten Brille ist seit 2014 die Präsidentin des Obersten Gerichts in Polen. Doch dann kamen 2015 die Rechten an die Macht. Die nationalkonservative Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) gewann die Wahl und erhielt eine absolute Mehrheit im Parlament. Seitdem säbelt die Regierung gefährlich nah am Herzen der Demokratie herum.

Eines der wichtigsten Merkmale der Demokratie ist die Gewaltenteilung. Sie bedeutet, dass ein und dieselbe Institution nicht verschiedene Gewaltenfunktionen ausüben darf. Gesetzgebung, -ausführung und Gerichtsbarkeit sollen voneinander unabhängige und sich gegenseitig kontrollierende Organe sein.

Von der polnischen Gerichtsbarkeit lässt sich inzwischen nicht mehr sagen, dass sie unabhängig von der Parlamentsmehrheit und damit der Regierung sei. Zuerst beschnitt die PiS-Regierung die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts: Die Posten von drei Verfassungsrichtern wurden mit parteinahen Personen besetzt. Seitdem hat das Verfassungsgericht nicht mehr gegen die Regierung entschieden. Dann wurden die Staatsanwaltschaften dem Justizminister unterstellt und die Kommission zur Richter*innenwahl der Kontrolle der Parlamentsmehrheit unterworfen. Zuletzt wandte sich die Regierung dem Obersten Gericht zu. Um sich unliebsamen Richter*innen zu entledigen, senkte sie das Rentenalter für Richter*innen von 70 auf 65 Jahre.

Eine Kämpferin für die Demokratie

Auch Małgorzata Gersdorf wurde in den Ruhestand geschickt. Aber Gersdorf ging nicht. Statt zu Hause zu bleiben, erschien sie trotz Zwangspensionierung am Arbeitsplatz – in ihrer Richterinnenrobe und mit einer weißen Rose in der Hand. Gersdorf begründete ihr Bleiben mit Verweis auf die polnische Verfassung. Dort steht in Artikel 183, dass die Amtszeit der Präsidentin sechs Jahre beträgt. Bis 2020 ginge demnach ihr Dienst und genauso lang wolle sie bleiben, so die 66-Jährige.

"Ich will zeigen, dass man den Mut haben kann, zu sagen, dass die Handlungen dieser Regierung verfassungswidrig sind. Und ich will zeigen, dass wir hier in Polen nicht tatenlos bleiben und bloß auf Europa hoffen", sagte Gersdorf in einem Interview mit der ZEIT. Dennoch war es Europa, das der Richterin zur Hilfe sprang.

Eigentlich wäre das polnische Verfassungsgericht dafür zuständig gewesen, das Gesetz zur Absenkung des Rentenalters zu prüfen. Das sei aber "sinnlos, völlig sinnlos", sagte Gersdorf, das Verfassungsgericht sei nur eine Fassade. "Das Urteil wäre vorhersehbar." Also wandte sich die Richterin an den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Der EuGH verordnete, die umstrittene Zwangspensionierung von Richter*innen am Obersten Gericht sofort zu stoppen. Dies gelte auch rückwirkend für bereits pensionierte Richter*innen. Die polnische Regierung beugte sich diesem Beschluss und Gersdorf rief ihre Kolleg*innen zurück ans Gericht.

Für ihr ausdauerndes Engagement für die Demokratie erhält Małgorzata Gersdorf am Samstag den Theodor-Heuss-Preis. "Zur Demokratie gehören auch Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Minderheitenschutz, Fairness in der öffentlichen Auseinandersetzung und die Freiheit der Medien. Aktuell versuchen leider Politiker und politische Strömungen, diese Errungenschaften zu unterminieren oder gar abzuschaffen. Frau Gersdorf hat sich mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit dieser Entwicklung in Polen entgegengestellt", begründet Gesine Schwan die Wahl der diesjährigen Preisträgerin.

Auch andere rechtsregierte europäische Länder wie Ungarn, Rumänien oder Österreich arbeiten derzeit daran, demokratische Institutionen zu beschneiden. Es bleibt zu hoffen, dass der Mut zum Widerstand, den Gersdorf vorgelebt hat, die betroffene Bevölkerung inspiriert.