Frank Zappa hat einmal gesagt: "So many books, so little time". So ging es auch Berufsmusikerin Petra Lehner, als sie sich für einen Lehrauftrag in kurzer Zeit viel Wissen aneignen sollte. Für die Österreicherin war Lesen damals purer Stress. Dabei war sie als Kind eine Leseratte, begegnete Büchern mit großer Neugier. Doch die wurde später im Internat durch Regeln erstickt.

Das änderte sich erst, als ihr in der Bibliothek das Buch PhotoReading von Paul R. Scheele buchstäblich auf den Kopf fiel. Sie las sich in die Materie des Hochgeschwindigkeitslesens ein, besuchte Seminare, wurde Trainerin. Doch sie wollte mehr, beschäftigte sich mit Lese- und Hirnforschung und entwickelte über viele Jahre des Lernens und Lehrens ihre eigene Methode: das SystemLesen, ein Set von Übungen und Tools, mit dem sie nun seit 20 Jahren Menschen in Seminaren, Workshops und Onlinekursen hilft, ihre Lesefähigkeit zu verbessern. Wir haben uns Tricks von ihr geben lassen, um die eigene Lesegeschwindigkeit zu erhöhen.

Warum wir an Schulen oft nicht gut lesen lernen

Lesen an sich ist zunächst einmal nur das neutrale Decodieren von Botschaften, die ein anderer codiert, also in schriftlicher Form festgehalten hat. Es kann wie das Gehen vollkommen automatisiert ablaufen. Im Autopilot-Modus bleibt aber vom Gelesenen nichts hängen. Erst durch Verstehen und Assoziieren können wir Inhalte begreifen, Wissen aufbauen und anwenden.

Lesen ist für Petra Lehner daher "die bewusste, fokussierte Aufnahme von Informationen ‒ neugier- und interessengetrieben". Gerade Letzteres sei ein entscheidender Punkt, der aber in Schulen oft vernachlässigt werden würde. Denn damit wir gelesene Informationen tatsächlich abspeichern, ist enorme Hirnarbeit nötig. Und die verbraucht Energie. Wie bei allen Energieleistungen ist es also auch beim Lesen wichtig, Motivation mitzubringen. Die würde aber oft durch schulische Regeln und Zwänge zerstört, so die Salzburgerin.

Die Folge: Das Lesen von Sach- und Fachbüchern bedeutet für viele Anstrengung, oft sogar Stress. Und unter Stress lernt es sich schlecht. Hinzu kommt, dass viele nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen unterscheiden können ‒ ein Aspekt unserer Lesekompetenz, der im digitalen Zeitalter immer relevanter wird. Denn wenn wir alles in der gleichen Intensität lesen würden, wären wir völlig überfordert. "Jemand, der lesekompetent ist, kann qualitative Entscheidungen über die Lektüre fällen. Er*Sie weiß, was er*sie richtig lesen will, was er*sie nur überfliegt und was er*sie nicht liest", sagt Petra.

So erkennen wir ein passendes Buch

Wie können wir aber entscheiden, was wir lesen und was nicht? Bei der Auswahl eines Buches empfiehlt die Leseexpertin zunächst, sich alle auf dem Cover befindlichen Infos und die Buchdicke anzuschauen. Beim Durchblättern lassen sich Buchlandschaft und Aufbau erahnen, ein Blick ins Inhaltsverzeichnis gibt Aufschluss über die Struktur, das Literaturverzeichnis über die Aktualität, das Register über die wichtigsten Schlagworte.

Das alles hilft bei der Einschätzung, ob das Buch für unsere Zwecke geeignet ist. Müssen wir es lesen, auch wenn es uns nicht zusagt, komme es auf das Mindset, also unsere innere Einstellung an, ob wir etwas mitnehmen. Wer sich zum Beispiel an der Struktur stößt, der*die könne sich sagen: "Umso besser, dann kann ich dem Inhalt meine persönliche Struktur verpassen."

Null Bock? Wie wir uns trotzdem zum Lesen motivieren können

Die intrinsische Motivation, also unser innerer Antrieb, ist wie so oft ein Schlüssel zum Erfolg. Sie hilft dabei, den mit dem Gedanken "Ich muss das lesen!" verbundenen emotionalen Widerstand zu überwinden. Wenn wir also keine Lust auf einen bestimmten Wälzer haben, ihn aber lesen müssen, müssen wir für genügend Motivation sorgen und den inneren Schweinehund austricksen, so Petra Lehner. Eine Möglichkeit: sich das Ziel hinter dem Ziel bewusst machen. "Wenn mich das Ziel, das Buch durchzulesen, nicht motiviert, dann kann ich mir zum Beispiel vor Augen rufen, was ich mit dem Studium erreichen will", erklärt die 53-Jährige.

Außerdem schreckt viele die Dicke eines Buches ab. Hier hilft es, sich die Seiten in kleinere Päckchen aufzuteilen, die leichter zu bewältigen sind. Zeitfenster und Pausen lassen uns länger durchhalten: Lehner empfiehlt einen Rhythmus von 20 Minuten Lesen, gefolgt von einer kurzen Pause, in der man sich lobt oder etwas gönnt (einen Espresso, ein Stück Schokolade et cetera). Nach drei Durchgängen steht eine längere Pause an. So lässt sich die Konzentration hochhalten. Eine ruhige, ablenkungsfreie Umgebung und ausreichend Licht sind ebenfalls wichtige Voraussetzungen für fokussiertes Lesen.

Warum wir ein Buch nicht von vorn nach hinten lesen sollten

Besondere Motivation entsteht laut Lehner aber dadurch, dass wir uns vorab beim Durchblättern eines Buches erlauben, an bestimmten Stellen hängenzubleiben. "Diese Stellen sind für uns besonders interessant, auch wenn uns der Zusammenhang vielleicht noch nicht klar ist. Das dadurch entstehende Interesse lässt uns viel motivierter mit dem Buch umgehen, zum Beispiel indem wir uns auf diese Stellen freuen, auf sie hinlesen."

Deswegen sollten wir ein Sachbuch zu Beginn nicht von vorn bis hinten durchlesen, sondern in mehreren Durchgängen das Lesen bestimmter Stellen vertiefen. Dazu nutzt sie bunte Haftnotizen, mit denen sie spannende Passagen markiert. Die Farbe der Markierung gibt Aufschluss über die Art der Textstelle (Zitat, Beispiel, Definition et cetera), den Themenbereich oder Ähnliches. Die Marker ergänzt sie dann durch Notizen.

Sie schreibe nie ins Buch hinein, sondern notiere sich alles mitsamt der Seitenzahl in einem Block. "Bei den Notizen kann jeder sein bevorzugtes System anwenden ‒ wichtig ist nur, dass man immer etwas zu den Punkten hinzufügen kann. Wenn sich bestimmte Bereiche dann verdichten, erhält man automatisch eine Gewichtung." Erst zum Schluss sollten wir das Buch komplett lesen ‒ sofern wir nicht schon alle nötigen Infos herausgezogen haben.

Wie wir unser Lesetempo erhöhen können

Sich Bücher auf diese Weise zu erschließen ist zeitintensiv, sei aber viel effizienter, wenn wir sie wirklich begreifen wollen. Die Lösung für das Zeitproblem liefert Lehner gleich mit: "Bereits mit zehn Minuten Lesetraining am Tag lässt sich nach ein bis zwei Wochen das Lesetempo verdoppeln. Ist man darin sattelfest, kann man die Geschwindigkeit weiter erhöhen."

Ihrer langjährigen Erfahrung als Hirn- und Lesecoachin zufolge ist es problemlos möglich, bei normalen Fließtexten auf eine Geschwindigkeit von bis zu 1.500 Wörtern pro Minute zu kommen. Zum Vergleich: Erwachsene ab 16 Jahren lesen im Schnitt 120 bis 250 Wörter pro Minute. Da es aber nicht nur um Schnelligkeit, sondern auch ums Verstehen geht, steigert sie mit ihrer Methode auch die effektive Leserate durch bestimmte Techniken und Übungen.

Ein simples Mittel, um schneller und konzentrierter zu lesen, sei das Mitzeigen, das man oft bei Kindern sieht. Sie deuten beim Lesen mit dem Finger jede Zeile entlang. Das Ganze funktioniert auch mit einem Stift. Dabei fokussiert sich das Gehirn auf die gezeigten Wörter, was ein Zurückspringen der Augen an eine andere Stelle verhindert und eine konzentriertere Aufnahme ermöglicht.

Warum wir mit gedruckter Literatur und handschriftlichen Notizen besser lernen

Das Mitzeigen ist bei gedruckter Literatur leichter; bei digitaler Lektüre sollten wir beim Mitzeigen per Maus darauf achten, dass uns Hand oder Schulter nicht einschränken. Generell rät Lehner zu echten Büchern: "Inhalte, die ich begreifen will, müssen (be-)greifbar sein. Deswegen würde ich Fach- und Sachbücher nie digital lesen, weil ich dann nicht richtig mit ihnen arbeiten kann." Ihr Tipp lautet daher: Digitale Literatur wenn möglich ausdrucken. Wenn das nicht geht, sollten die Notizen so umfangreich sein, sodass wir sie ohne den Text nutzen können.

Auch Hörbücher, Podcasts oder Videos scheiden als erste oder einzige Lernquelle für sie aus. Denn das Hören aktiviere nicht den visuellen Cortex, den aufnahmebereitesten Bereich im Gehirn. Videos wiederum würden uns vorgefertigte Bilder liefern, während wir beim Lesen Bilder selbst erzeugen. Durch diesen aktiven Prozess bleibt mehr hängen und wir lernen schneller und leichter. Das gilt übrigens auch fürs Aufschreiben per Hand: Wer sich zur Klausurvorbereitung Stichworte notiert, anstatt gedruckte oder eins-zu-eins abgeschriebene Passagen auswendig zu lernen, kann sich wesentlich mehr merken und die Inhalte auch besser anwenden.

Lehner hat ihren Lesefrust in Leselust verwandelt. Heute liest sie oft drei bis fünf Bücher pro Woche ‒ für sie keine außergewöhnliche Spitzenleistung, sondern etwas, das jede*r schaffen kann, wenn er*sie sich mit dem Lesen auseinandersetzt.