Als Reinhold Messner von seinem ersten Solo-Trip auf den Mount Everest ins Camp zurückkehrte, war er völlig dehydriert und erschöpft. Er fiel hin, er kroch auf Händen und Knien und als sein Team ihn endlich erreichte, blickte er nur auf und fragte: "Wo sind meine Freunde?"

Egal, ob Messner diesen Spruch tatsächlich gesagt hat, oder nicht – als ich davon las, konnte ich diesen Impuls sofort verstehen. Denn es gibt so Momente, auch im Nicht-Messner-Leben. Man ist am Ende. Man kann nicht mehr. Man möchte nur eins: seine Freund*innen bei sich haben. Denn Freund*innen sind mit die wichtigsten Menschen in unserem Leben. Meine Freund*innen sind mir sogar so wichtig, wie es ein Partner gar nicht sein könnte. Und das hat gute Gründe.

Freiheit zum Aushalten

Mit Freunden haben wir die einzige Beziehung, die wirklich ausschließlich freiwillig ist. Keine familiären Verpflichtungen, keine Schuldigkeiten aus Lust und Leidenschaft. Wir suchen uns unsere Freunde aus. Ganz bewusst und ohne Not. Freundschaften müssen wir auch nicht benennen, nicht aushandeln – wir warten nicht sehnsüchtig darauf, endlich "mein Freund" oder "meine Freundin" sagen zu können. Wir können sie so nehmen, wie sie sind.

Das ist kostbar, denn auch wir können uns geben wie wir sind. Wir haben nicht den Eindruck, uns verstellen zu müssen. Treffen wir Freund*innen, ziehen wir weder den Bauch ein, noch versuchen wir verzweifelt mehr über indisches Art-House-Kino zu wissen, als uns je interessieren könnte. Nur, um jemanden zu beeindrucken.

Wir haben nicht das Gefühl, das beste "Ich" präsentieren zu müssen. Denn wir nehmen Freund*innen ab, dass sie sowieso uns selbst meinen, wenn sie mit uns befreundet sein wollen. Darum sind Freundschaften so wertvoll: Freund*innen sind die Menschen, die wirklich uns meinen. Und das ändert sich auch nicht, sollte die Freundschaft mal abkühlen. Ich habe noch nie eine*n alte*n Freund*in getroffen und mich gefragt: "WTF?! Was habe ich denn da nur gedacht?!" Mit Ex-Partnern ist mir das schon ein paar Mal so gegangen. Mit Freund*innen eben noch nie. Das will was heißen.

Keine "besseren Hälften"

Freund*innen sind auch so furchtbar wichtig, weil sie eben nicht so wichtig sind. Weil wir sie nicht für das Gelingen unseres Lebens verantwortlich machen. Das ist mit Partnern*innen anders. Denn auf Beziehungen lastet oft ein ziemlicher Druck: Ist das wirklich die Person, mit der ich alt werden will? Mit der ich Kinder bekommen könnte? Ertrage ich die Person in zehn Jahren überhaupt noch?

So ein Druck lastet auf keiner Freundschaft. Wir können uns ganz der Freundschaft hingeben ohne dabei noch im Hinterstübchen zu zweifeln: Ist es das Richtige?

Denn Freund*innen sind nicht das, was wir oft als "bessere Hälfte" missverstehen. Wir erwarten von ihnen nicht, dass sie uns komplett machen, unsere Schwächen ausgleichen, uns aufwerten. Wir erwarten kein besseres Leben von ihnen. Das macht ihre Rolle in unserem Leben wiederum so einzigartig: Sie erinnern uns nämlich daran, dass wir das mit dem Glück nur selber hinbekommen können.

Bromance und BFF

Außerdem können wir mit Freund*innen loslassen, ohne ganz loslassen zu müssen. Wir können immer noch ein Stück unsere Fassung bewahren. Klar, meine Freund*innen haben mich schon in allen Aggregatzuständen erlebt: Sie wissen, wie (schrecklich) ich nach zwei Stunden Schlaf und 12 Gin Tonics aussehe. Sie haben mir schon beim Herzschmerz-Schluchzen den Rücken gestreichelt und beim nächtlichen Pinkeln im Park selbstlos das letzte Taschentuch gegeben.

Wir wissen viel voneinander. Worüber wir uns immer mit unseren Eltern streiten, welche Drogen wir schon mal ausprobiert haben, wen wir betrogen haben, wen wir nie vergessen können.

Aber es gibt trotzdem eine backpapierdünne Schicht, die in Freundschaften fast nie durchtrennt wird. Denn Freund*innen sehen nur ganz selten die schlimmste Version von uns. Wie wir vor Eifersucht durchdrehen können, wie wir uns mit Affären rächen, wie bewusst wir verletzend sein können. Unsere wirklich hässliche Fratze kennen oft nur unsere Partner*innen.

Deswegen werden mir meine Freund*innen auch immer wichtiger als eine Beziehung sein. So paradox es klingt. Aber Freund*innen finden uns besser, als wir uns selbst finden. Denn sie kennen nicht alles von uns. Sie finden uns besser, und so fühlen wir uns besser. Aber wir fühlen uns nicht nur besser, wir werden auch besser. Denn wir möchten die Person sein, von der unsere Freund*innen glauben, dass wir es sind.