Achtung, Triggerwarnung! In diesem Beitrag geht es um rituellen sexualisierten Missbrauch sowie um organisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen.

"Die Nicki(s)" – das sind Nicki, Tony, Burghardt, Tina, Nele, Gina und Sonja. Sieben Persönlichkeiten, die sich einen 59-jährigen Körper teilen. Die massiven Gewalt- und Missbrauchserfahrungen durch ihre Eltern in einem religiösen Kult überleben sie mit einer dissoziativen Identitätsstruktur (DIS). Sie sind "viele geworden". "Viele geworden zu sein, ist keine Krankheit, sondern eine Anpassungsleistung in einer gewaltvollen Realität, die sonst nicht überlebbar wäre", erklärt der Verein Vielfalt e.V.

Menschen mit DIS sind vor allem Überlebende. Oftmals Überlebende ritueller und/ oder organisierter Gewalt. Rituelle Gewalt ist die systematische Anwendung schwerer körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt in destruktiven Gruppierungen. Häufig dient eine faschistische oder religiöse Ideologie als Sinngebung, als Rechtfertigung der Gewalt und liefert ein erlerntes Wertesystem. In manchen Gruppierungen sind Familien über viele Generationen eingebunden, wodurch sich Betroffene ab dem frühesten Kindesalter an Täter*innen und Ideologie gebunden sehen.

Wir haben es hier mit organisierten Gewaltstrukturen in großem Umfang zu tun.
Ellen Engel, Rechtsanwältin

Durch lebenslange Konditionierung und Programmierung, sogenannte Mind Control, werden Betroffene gezwungen, zu gehorchen und zu funktionieren. Die Spaltung in verschiedene Innenpersonen kann sogar von Täter*innen bewusst herbeigeführt werden, um Betroffene gezielt abzurichten. Es gibt dabei häufig Verbindungen zu organisierter Kriminalität: Menschenhandel, Zwangsprostitution, Drogenhandel, Produktion und Vertrieb von Missbrauchsmaterial.

Rituelle Gewalt als Form organisierter Gewalt

"Wir haben es hier mit organisierten Gewaltstrukturen in großem Umfang zu tun", erklärt Ellen Engel, eine Rechtsanwältin, die seit über 20 Jahren Betroffene ritueller Gewalt vor Gericht vertritt. "Es gibt weit verzweigte Täter*innenkreise, die zusammenarbeiten. Bei Ritualen werden häufig Videos und Fotos hergestellt, die im Darknet getauscht und verkauft werden. Dafür gibt es einen Markt im Internet."

Schätzungen gehen von täglich 30.000 bis 50.000 Konsument*innen solchen Materials aus – allein in Deutschland. Laut ehemaligem Chef des Bundeskriminalamts Jörg Ziercke gehe es dabei um ein Millionengeschäft und reine Gewinnmaximierung auf Grundlage des Leids von Kindern. 

Im Bodensatz sind diese Gruppierungen höchst antidemokratisch und faschistoid.
Michaela Huber, Psychologin

Solche Fälle sind in unserer Gesellschaft nicht unbekannt. Ob nun Paul Schäfer, der zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er jahrelang Kinder in seiner christlichen und faschistischen Sekte Colonia Dignidad vergewaltigte und folterte oder Beate Zschäpe, Mitglied des NSU, auf deren Computer massenweise pädokriminelles Material gefunden wurde. Immer wieder fanden Ermittler*innen Hinweise darauf, dass das NSU-Trio selbst in pädokriminelle Nertzwerke verwickelt war. "Im Bodensatz sind diese Gruppierungen höchst antidemokratisch und faschistoid", ergänzt Psychologin Michaela Huber. 

Es gibt gesellschaftliches Unverständnis und strukturelle Barrieren

Noch zu selten kommt es zu Verurteilungen, auch wenn es immer wieder Einblicke in verwobene Täter*innenstrukturen pädokrimineller Netzwerke gibt. Betroffene werden von Täter*innen bis weit ins Erwachsenenalter bedroht und unter Druck gesetzt.  Intersektionen zwischen rituellem und organisiertem Kindesmissbrauch werden von zuständigen Behörden nicht erkannt.

In der aktuellen bundesweiten Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) weist das Bundeskriminalamt 12.262 Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung kinderpornografischer Schriften (Schlüsselzahl 143200) aus. "Das Phänomen 'ritueller Missbrauch' wird in der PKS aber nicht als solches erfasst. Vor diesem Hintergrund sind Aussagen hierzu nicht möglich", heißt es in einer Aussage der offiziellen Pressestelle.

Es gibt rituellen sexuellen Missbrauch. Es gibt organisierte Strukturen, die Kinder in ihren Strukturen halten, sie bedrohen und an andere Menschen verhökern.
Barbara Kavemann, Soziologin

Die Gesellschaft ist kaum sensibilisiert, das Justizsystem ist nicht ausreichend oder gar nicht für den Umgang mit DIS-Betroffenen geschult. Aussagen bei der Polizei werden durch das ständige unkontrollierte Wechseln der Innenpersonen erschwert. "Es gibt rituellen sexuellen Missbrauch. Es gibt organisierte Strukturen, die Kinder in ihren Strukturen halten, sie bedrohen und an andere Menschen verhökern. Das Wissen darüber kann vieles erleichtern, deswegen ist es wichtig, dass in unserer Gesellschaft darüber gesprochen wird", betont Barbara Kavemann, Soziologin und Mitarbeiterin der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.

Doch viele Betroffene wagen es nicht, ihr Schweigen zu brechen. "Das mit der Sicherheit ist tatsächlich ein großes Problem", so Kavemann. "Viele sprechen aus sehr guten Gründen nicht darüber, weil die Bedrohungslage anhalten kann. Diejenigen, die das getan haben, sind Personen aus ihrem nächsten Umfeld gewesen. Die haben einen guten Grund, Druck auszuüben, um sich selbst zu schützen."

Unsere Dokumentation

Der zweite Teil unserer Dokumentation widmet sich den Ursachen und Auswirkungen eines Lebens mit dissoziativer Identitätsstruktur. Wo müssen wir hinschauen, um rituelle Gewalt zu erkennen? Welchen Barrieren begegnen Überlebende, wenn sie sich dazu entscheiden, ihr Schweigen zu brechen? Im ersten Teil unserer Dokumentation ergründen wir die Entstehung und Ursachen eines Lebens, das zu vielen wurde. Hier kannst du den Beitrag sehen:

Hilfe holen

Hilfe bietet die bundesweite, kostenfreie und anonyme telefonische Anlaufstelle berta unter der Telefonnummer 0800 3050750, sie richtet sich an Betroffene organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt, sowie an Angehörige, Helfende und Fachkräfte.

Das Hilfetelefon sexueller Missbrauch  erreichst du unter 0800 22 55 530, es ist die bundesweite Anlaufstelle für Betroffene sexueller Gewalt, für deren Angehörige sowie Personen aus dem sozialen Umfeld von Kindern, für Fachkräfte und für alle Interessierten.

Beide sind kostenfrei und anonym.