Als Alexander Jorde zu seiner Frage ansetzt, wird es still in der Wahlarena. Der junge Mann ist Auszubildender in einem Krankenhaus und zieht nach nur einem Jahr im Job ein vernichtendes Fazit, das wohl viele in der Pflege beschäftigte Menschen in Deutschland so bestätigen würden: Die Zustände in deutschen Kliniken und Pflegeeinrichtungen seien teilweise so schlecht, dass sie gegen Artikel 1 unseres Grundgesetzes verstießen.

Warum? Weil es eben gegen die Würde eines Menschen verstößt, wenn dieser stundenlang in seinen eigenen Exkrementen liegen muss und zu wenig Pflegende da sind, um ihm zu helfen. Alexander Jorde wirft der Bundeskanzlerin vor, nicht viel für die Krankenpflege getan zu haben, obwohl sie seit zwölf Jahren im Amt ist. Er fragt sie, warum sie nicht endlich eine Quote einführe, die etwa die Anzahl an Patient*innen, die eine Pflegekraft betreuen muss, beschränkt.

Was für eine großartige Gelegenheit für Merkel das war. Als Kanzlerin dieses Landes hätte sie Reflexion und Stärke beweisen können. Sie hätte in dieser Sache ein Versagen eingestehen können, hätte dem mutigen jungen Mann und den Pflegekräften in Deutschland ihr Verständnis aussprechen können. Abschließend hätte sie sagen können, dass sie den übrigens sehr guten Vorschlag einer Quote berücksichtigen werde.

Hätte. Was Merkel stattdessen getan hat? Rumgedruckst. Sie kann nichts versprechen, aber wird schon irgendwie besser werden, man hat ja kürzlich zwei Gesetze verabschiedet und auch Beiträge erhöht, bli-bla-blubb. Diese wenigen Minuten in der ARD-Sendung fassen sehr gut zusammen, was viele Menschen in unserem Land an Merkel bemängeln: Sie kann oder will keine klaren Positionen beziehen.

Gestatten, die Anführerin der freien Welt

Merkel sagt, sie hoffe, dass sich etwas verbessert haben werde, wenn sie und Alexander Jorde sich in zwei Jahren noch einmal sehen. Da setzt er noch einmal nach und sagt: "Das kann gar nicht funktionieren!"

Merkel fragt, was denn nicht funktionieren könne. Jorde klärt sie darüber auf, dass die demografische Lage gegen eine Verbesserung der Situation in der Pflege spreche. Immerhin: An dieser Stelle sagt Merkel, man müsse dem entgegenwirken, indem man durch Tarifverhandlungen die Bezahlung der Pflegekräfte attraktiver mache.

Wirklich retten kann Merkel die vertane Chance dadurch aber nicht. Sie wirkte im Wahlkampf noch nie so blass wie in diesem Moment. Jorde gelang es mit einer einzigen bissigen Nachfrage, sie kurz zu demaskieren. Ihr floskelhaftes Auftreten, das ihr sonst immer hilft, half ihr da nicht weiter. Als sie erstmals den Fragen eines Querschnitts der Bevölkerung ausgeliefert war, stand sie, Merkel, an der sonst alles links und rechts abprallt, kurz wehrlos da.

Als mächtigste Frau der Welt ist Merkel nicht in der Lage, einfach menschlich auf einen jungen Mann zu reagieren, der sie mit einem realen Problem konfrontiert. Wow. Wie kann eine solche Person ein Vorbild sein, für junge Menschen, wenn schon das eine Herausforderung darstellt? Denn auch das muss eine politische Führung leisten – sie muss nicht nur politische Leitung übernehmen, sondern auch moralische. Aber wie soll sie die freie Welt anführen, wenn sie es ihr nicht mal gelingt, einer jungen Pflegekraft eine ehrliche Antwort zu geben?

Woher der Wind auch weht

Womöglich ist am Ende doch etwas dran vom etwas platten Spruch ihres Herausforderers Martin Schulz, sie sei abgehoben. Ein Philosoph sagte ze.tt kürzlich, dass das Geheimnis Merkels darin liege, den Deutschen Bescheidenheit auf einem hohen Niveau beizubringen. Da bleibt wenig Platz für Kante und Profil.

Andererseits: Kante und Profil hatte sie nie so wirklich. Merkel ist die Art Politikerin, die in der einen Woche für etwas stimmen kann und in der anderen dagegen. Sie ist die Art Politikerin, die erst vollmundig von unseren offenen Grenzen spricht und Geflüchtete ins Land lässt, um dann ein Jahr später von konsequenter Abschiebung zu philosophieren und eine Mauer in Afrika zu bauen, damit Schutzbedürftige bloß nicht übers Mittelmeer zu uns kommen können. Und sie ist die Art Politikerin, die einen deutschen Bürger, den Satiriker Jan Böhmermann, in die Kacke reitet, weil sie sich nicht vor einem türkischen Präsidenten die Blöße geben möchte.

Das alles muss man wissen, wenn man sie wählt. Bei Jorde bedankte sie sich abschließend noch dafür, dass er statt etwa Mechatroniker zu werden, den schlechter bezahlten Beruf des Krankenpflegers ergriffen hat. Eine reale Perspektive für die Zukunft der annähernd zwei Millionen Deutschen in Pflegeberufen konnte sie nicht liefern. Die kurze Konfrontation mit dem echten Leben in der Wahlarena zeigt so vor allem eines: wie weit sich die Bundeskanzlerin mittlerweile von den ganz normalen Menschen und deren Sorgen entfernt hat.