Wahlsonntag in Hamburg. Um die Mittagszeit macht sich Michel Arriens gemeinsam mit seiner Partnerin Franziska auf den Weg in sein Wahllokal, eine Schule in seinem Bezirk. Dort angekommen stehen ihm allerdings 13 Stufen im Weg – eine Hürde, die Arriens nicht nehmen kann. Er ist kleinwüchsig und kann selbstständig die Treppe nicht hoch. Seine Partnerin bittet die Wahlleiterin vor Ort um Hilfe. Doch nach Rücksprache mit dem Hausmeister wird Michel mitgeteilt, dass es keinen barrierefreien Zugang zum Wahllokal gebe. Auch ein Gespräch mit dem zuständigen Bezirksamt bringt keine guten Neuigkeiten. Michel hätte Briefwahl beantragen sollen, oder er könne ins Bezirksamt fahren. Oder eben auf sein Stimmrecht verzichten.

Keine Option für Arriens, klar.

Menschen vor Ort boten ihm also an, ihn in das Wahllokal zu tragen. Auch das keine Option für den 29-Jährigen. "Ich bin ein erwachsener Mann, ich will nicht getragen werden", erklärt er. "Von wildfremden Menschen getragen werden zu sollen, empfinde ich als entwürdigend. Zumal es durch den Regen überall glitschig war. Wenn etwas passiert wäre, wäre niemand versichert gewesen."

Und so machen sich Arriens und seine Partnerin auf zum Bezirksamt, einmal durch die halbe Stadt. Dort angekommen, wird ihm zunächst gesagt, er hätte ja per Briefwahl oder aber in einem barriefreien Wahllokal oder im Bezirksamt bis Freitag um 18 Uhr wählen können. "Wir können es uns nicht leisten, dass ich nicht wähle. Ich möchte von meinem Recht auf No AfD Gebrauch machen", erklärt Arriens daraufhin.

Auch hält er eine Briefwahl nicht für eine grundsätzliche Lösung. Es müsse schließlich für jede*n Bürger*in möglich sein, die eigene Wahlentscheidung noch bis zum Wahltag selbst aufzuheben. Wie ließe sich sonst auf ganz aktuelle politische Geschehnisse eingehen? Wenn Menschen, die auf einen barrierefreien Zugang angewiesen sind, nur über eine Briefwahl sicherstellen könnten, bei einer Wahl teilzunehmen, wird ihnen diese Möglichkeit genommen. Und das sei zutiefst undemokratisch.

Hektisch sucht man also im Bezirksamt nach einer Lösung. Und schickt Arriens schließlich zurück in sein Wahllokal. Dort solle vor den Treppenstufen eine mobile Wahlkabine aufgebaut werden. Arriens fährt also den ganzen Weg zurück und kann vor Ort endlich wählen. Allerdings nicht so, wie es eigentlich im Gesetz vorgesehen ist.

Denn während Arriens im Freien auf einem durchnässten Stuhl hinter der Kabine Platz nimmt, um seine Kreuzchen zu machen, gehen Menschen hinter ihm vorbei. Eine geheime Wahl wird so nicht garantiert. Seinen Stimmzettel kann er auch nicht selbst einwerfen, eine Wahlhelferin erledigt das für ihn. So bleibt es Arriens letzten Endes nur zu hoffen, dass seine Stimme den Weg in die Urne findet.

"Es waren wirklich alle sehr nett und hilfsbereit, aber das systemische Problem bleibt", sagt Arriens am Tag nach der Wahl. Vor über zehn Jahren ist in Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung in Kraft getreten. Und dennoch sind nur knapp ein Viertel aller Wahllokale in Hamburg barrierefrei. Klar sei Briefwahl eine Alternative, aber eben nur dann, wenn er wirklich verhindert sei und nicht, wenn er in der Stadt sei und wählen gehen könne. Denn eine Wahl sei schließlich auch ein ganzheitliches demokratisches Erlebnis. Vor Ort zu sein, den Prozess beobachten zu können, mit anderen Menschen gemeinsam die Wahl vollziehen zu dürfen – all das ist ein demokratisches Recht.

Eine Wahl ist einer der wichtigsten demokratischen Prozesse. Es kann nicht sein, dass es Menschen mit Behinderungen nicht besser ermöglicht wird, diesen Prozess mitzumachen.
Michel Arriens

Arriens ist Aktivist und Campaigner bei der Petitionsplattform Change.org, er ist im Vorstand des Bundesverbands kleinwüchsiger Menschen. Und er hat seine Probleme am Wahltag mit der Öffentlichkeit geteilt, auf Twitter. Dort fordert er auch die Einrichtung eines Runden Tisches: "Ich finde es ungemein wichtig, im Gespräch zu sein. Viele Probleme lassen sich niedrigschwellig lösen. Aber wir müssen uns eben damit auseinandersetzen." Die Probleme betreffen auch nicht nur Barrieren in Form von Treppen und Eingängen, sondern zum Beispiel auch fehlende Wahlbenachrichtigungen für Menschen mit Sehbehinderung, wie eine Kleine Anfrage der Linken-Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft ergab.

Am Tag nach der Wahl ist Arriens noch immer etwas mitgenommen von seiner Odyssee durch Hamburg. Auch die Trolle, die ihm nach seinen Tweets Hassnachrichten geschickt haben, belasten ihn. "Aktivismus führt heutzutage nunmal zu Trollismus", meint Arriens, und betont, wie wichtig es ihm sei, aktiv nach einer Lösung zu suchen – und nicht nur "aktiv zu meckern".

Die Lösung müsse 100 Prozent Barrierefreiheit lauten. "Wenn wir das nicht schaffen, ist das einfach zutiefst undemokratisch."