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Wovor soll sich unsereins im Kino noch fürchten? Jedes Monster ist bereits tausendfach unterm Bett hervorgesprungen, ob als fein modellierte Gummimaske oder detaillierte Computergrafik. Jeder Knochen des Menschen wurde gebrochen, zersägt oder abgenagt, jedes Körperteil durchbohrt. Und im gesammelten Kunstblut aller Splatterfilme könnte die Titanic ein weiteres Mal untergehen. Von Okkultismus über Vampirismus bis hin zum Alltagshorror: Wir haben alles schon gesehen.

Und doch: Der 33 Jahre alte Regisseur Ari Aster hat im vergangenen Jahr einen kreativen Überraschungshit im Gruselgenre gelandet. In Hereditary erfand auch der New Yorker den Horror zwar nicht neu, kombinierte bekannte Elemente aber in ungewöhnlicher Weise mit einigen Kniffen des Autor*innenkinos. Die Geschichte einer Familie, deren gestorbene Großmutter in satanischen Gefilden wilderte und die dadurch abstruse Schicksalsschläge hinnehmen muss, bot alles, was ein gutes Indiedrama ausmacht: eine einfallsreiche audiovisuelle Gestaltung, einen Oscar-reif aufspielenden Cast und geschliffene Dialoge.

Dazu war Hereditary aber auch ein guter Horrorfilm. Weil Aster die Zuschauer*innen eben nicht mit der Nase in die Blutgrütze drückt, mit dem Hinweis: "Hier, schau, super eklig, voll krass, oder? Jetzt grusele dich gefälligst!" Vom vorherrschenden Thema seines Erstlings, Familie, hat sich Aster in seinem neuen Horrorfilm größtenteils verabschiedet – im Drehbuch zu Midsommar verarbeitete er unter anderem seine eigene Trennung nach dreijähriger Beziehung.

Ein Trip in die absolute Beleuchtung

Genau so eine Trennung bekommen die US-Studierenden Dani (Florence Pugh) und Christian (Jack Reynor) nicht so richtig gebacken. Er ist genervt von ihrem andauernden Familiendrama, sie von seiner Empathie- und Gedankenlosigkeit. Christians Freunde, allen voran Dumpfbacke Mark (Will Poulter), drängen ihn: Mach endlich Schluss! Doch bevor er den Absprung schafft, trifft ein unaussprechlich harter Schicksalschlag Dani – und Christian hält deshalb zähneknirschend weiter zu ihr.

Die Dudes-Gang verspricht sich Entspannung – und manche von ihnen potenzielles Material für eine kulturhistorische Dissertation – von einem Trip mit Kumpel Pelle (Vilhelm Blomgren) in dessen schwedische Heimatkommune. Dort wird alle 90 Jahre ein ganz besonderes Sommersonnenwendefest gefeiert. Aber auch hier schafft es Dani, sich irgendwie reinzumogeln, worüber sich lediglich Pelle so wirklich zu freuen scheint.

In der Provinz Hälsingland angekommen, fernab der Zivilisation, erleben die naiven US-Amerikaner*innen einen Kulturschock. In strahlendem Sonnenschein werden sie von hübschen und immer lächelnden Schwedinnen in blütenweißen Trachten umgarnt, schmeißen Halluzinogene und nehmen mit großen Augen an Banketts und Ritualen teil. Eines dieser Rituale erschüttert die Studierenden dann aber doch nachhaltig, denn nicht nur das Leben läuft bei diesen schwedischen Hippies etwas anders ab, auch der Tod wird hier nach ganz eigenen Regeln vollzogen.

Lieber langsamer Schrecken als schnelles Erschrecken

Keinen Satans-, sondern einen Sektenkult bemüht Ari Aster in seinem zweiten Kinofilm. Und der ist ein audiovisuelles Meisterstück geworden, mehr noch als sein Erstling. Ganz zu Anfang gibt es etwa eine anbetungswürdig schaurig-intensive Kamerafahrt, die das Ausmaß von Danis Familientragödie dokumentiert und den Atem stocken lässt. Eine der wenigen dunklen Szenen des Films. Die darauffolgenden zwei Stunden sind fast ausschließlich in gleißendes Sonnenlicht getaucht, und bei Odin: Das Konzept geht auf.

Der konstante Taumel durch die Überbelichtung wirkt wie ein Sog, ein paradiesisches Utopia, das irgendwann in einen Fiebertraum umschlägt, dem man nicht mehr entkommen kann. Die konstante Bedrohung und Ahnung der kommenden Grausamkeiten zehrt an den Nerven; das ist wirklicher Horror.

Jumpscares oder plumpe Schockeffekte gibt es hier abermals nicht zu sehen, dennoch aber allerhand Grausames, explizit Brutales und Abscheuliches. Midsommar ist nicht in typischem Horrorsinne gruselig, sondern viel schlimmer noch: Der Film ist konstant unangenehm. Ob durch Bilder, Ereignisse oder das Verhalten der Figuren. Diese unheilvolle Atmosphäre ist eine Spezialität Asters. Solch ein Ausnahmekunstwerk in dem Genre, das nicht in artifizieller Selbstgefälligkeit ertrinkt, gibt es selten im Kino.

Ein verlockend tödliches Utopia

Auch wenn nicht viel passiert, schmelzen die Szenen in dem schwedischen Idyll ineinander, die zweieinhalb Stunden vergehen wie im Flug. Neben der superben Kameraarbeit von Pawel Pogorzelski trägt auch das Sounddesign seinen Teil dazu bei. Wenn etwa aus dem Off das Spiel einer Flötenkapelle ertönt, dann wandert diese auch wenig später durchs Bild.

Die vielfarbigen Stücke hat Bobby Krlic alias The Haxan Cloak komponiert. Der Brite gelangte erst durch eine andere nordische Connection zu Bekanntheit: Er arbeitete an Björks exzellentem Herzschmerzalbum Vulnicura (2015) mit – in dem sie ebenfalls ihre Trennung verarbeitete, jene vom New Yorker Künstler Matthew Barney. Der Kreis schließt sich also auch beim Soundtrack.

Bei all dem Lob: Midsommar ist nicht fehlerfrei. Die Charaktere etwa sind nicht gerade komplex gestrickt. Die Darsteller*innen, allen voran Florence Pugh (merkt euch den Namen, der Hype um die 23-Jährige scheint programmiert), machen einen ordentlichen Job, aber eine Oscar-reife Leistung wie etwa die von Toni Collette in Hereditary ist hier nicht zu sehen. Die Story ist auch wenig überraschend, selbst der Twist am Ende ist ohne prophetisches Filmwissen vorhersehbar. Doch trotz alldem ist auch Ari Asters zweiter Film ein hypnotisches Meisterwerk, dessen Bilder immens, lange und verstörend nachwirken.