In unserer Reihe Aus der Schule schreiben Schüler*innen für ze.tt, was sie in ihrem Alltag bewegt.

Eines Tages war es plötzlich da: das große Nichts. Unangemeldet tauchte es während einer Französischklausur in der zehnten Klasse zum ersten Mal auf. Sie blickte aufs Papier und blickte ins Nichts: Blackout. Zuvor war die Schülerin in ihrem frankophonen Lernfieber kaum zu stoppen gewesen. Vokabel auf Vokabel hatte sie wiederholt, jede Grammatikregel wurde bis ins Detail gepaukt. Ihr Ziel, wie eigentlich immer: eine gute Punkteausbeute, so wenig rote Korrekturfarbe wie nur möglich.

Aber am Tag der Klassenarbeit saß sie vor dem leeren Blatt, in ihrer Hand zitterte der Stift und Panik stieg in ihr auf. Ihr angelerntes Wissen war wie weggeblasen. Fast drei Schuljahre lang sollte sie diese Prüfungsangst immer wieder beschäftigen. Nicht nur in Französisch, auch in Mathe. "Man arbeitet auf das Abitur als das große Ziel hin und da merkt man erst, wie der Druck Jahr für Jahr größer wird."

Die Schülerin aus Stuttgart ist kein Ausnahmefall. Mit Angst und Stress hat eine große Zahl an Schüler*innen in ganz Deutschland zu kämpfen. Wer auf die alles entscheidenden Prüfungen zusteuert, dessen Angstpegel steigt beträchtlich. Seit 2015 untersucht die weltweite PISA-Studie auch das psychische Wohlbefinden der Befragten. 59 Prozent der 15-jährigen Schüler*innen geben an, vor Tests häufig wiederkehrende Ängste zu verspüren. Hierzulande geben 52 Prozent der Befragten an, unter ernsthaften Sorgen vor Leistungsabfragen zu leiden.

"Die Angst ist eine Spirale, die sich bis zum Abi immer weiterdreht"

Nicht nur im Kopf warf die Angst bei Vivien vieles durcheinander. Seit der zehnten Klasse klagte sie immer wieder über Migräne, vor Klassenarbeiten habe sie begonnen, weniger zu essen. Und am Ende war da immer wieder diese Angst, das alles irgendwann nicht mehr zu packen. "Es sind immer die gleichen Fragen, die man sich stellt", erklärt Vivien diesen Zustand. "Habe ich genug gelernt? Hätte ich nicht noch mehr tun sollen? Wie eine Spirale, die sich bis zum Abitur hin immer weiterdreht."

In der Schule fühlte sie sich mit ihren Sorgen fehl am Platz. Im Freundeskreis redete man zwar schon hin und wieder über den stressigen Alltag – aber ernste Probleme mit der Prüfungsangst? "Selbst unter engen Freunden ist das ein Tabuthema gewesen", sagt Vivien. So blieben nur die Eltern, die jahrelang vergeblich versuchten, ihre Tochter der Spirale zu entreißen. "Meine Eltern haben mich immer wieder von Neuem bestärkt und mir gesagt, ich solle auf meine Fähigkeiten vertrauen. Aber es ist schwer, das dann auch selbst zu glauben."

Wer gut vorbereitet ist, hat weniger Angst

Wer Angst vor Prüfungen hat, muss sich ihnen nicht alleine stellen. Es gibt Beratungsstellen für Schüler*innen in ganz Deutschland. In Viviens Heimat Stuttgart befindet die sich in einem altehrwürdigen Klinkerbau mitten im Stadtzentrum. An den Wänden frischt Kunst die triste Verwaltungsatmosphäre auf. In einem der hellen Beratungszimmer arbeitet Anne Niedermeier. Die Diplompsychologin berät seit knapp zwölf Jahren Lehrende, Eltern und Schüler*innen. In den Gesprächen geht es um Schulwechsel, um Schicksalsschläge oder um drängende Versagensängste.

"Wir sind ein Ort der Freiwilligkeit. Dieser Grundsatz ist uns wichtig", betont die Expertin. Auch wenn der erste Impuls oft von außen komme, müsse sich der Hilfesuchende am Ende selbst für eine tiefergehende Betreuung entscheiden. Dass diese im Falle von Prüfungs- und Versagensängsten eine ernsthafte Lösung sein kann, davon ist sie überzeugt.

"Nichts wirkt so effektiv gegen Ängste wie eine gute Vorbereitung", sagt Anne Niedermeier gleich zu Beginn. Deswegen ginge es in vielen Beratungen erst einmal um die Planung des eigenen Lernverhaltens: Die meisten Schüler*innen würden sich mit Blick auf die Klausuren zu viel Stoff aufbürden und gar nicht erst richtig anfangen. Ein weiteres Problem sei die ständige Suche nach Zerstreuung an technischen Geräten und fehlende Aktivpausen zur Entspannung. Der Rat der Expertin: "Früh genug exakte Lernpläne gegen die Überfrachtung aufstellen, das Pausieren nicht vergessen und Handys aus der Lernzone verbannen."

Richtig sitzen und tief durchatmen

Aber nicht nur im Lernalltag findet die Psychologin bei den meisten Schüler*innen zahlreiche Ansatzpunkte: "Es kann auch um Entspannungsmethoden gehen. Ganz einfache Atemtechniken sind häufig schon sehr hilfreich." Das wirke vor allem, wenn Schüler*innen bereits im privaten Umfeld mit Entspannungstechniken zu tun hatten.

Akutere Fälle ohne jegliche Vorkenntnis behandelt die Schulpsychologin ebenso. "Selbst bei Kurzfristigkeit hilft es, so gut es noch geht, einen Lernplan zu erstellen. Gerade wenn der Stress hoch ist, muss man auf einen angemessenen Wechsel zwischen Arbeits- und Erholungsphasen achten." Die Pausen sollten Schüler*innen so nutzen, dass eine Stressabfuhr möglich wird. "Bewegung und Aktivität sind immer dem Fernseh- oder Handykonsum vorzuziehen", sagt Niedermeier.

Bereits kleinste Veränderungen können laut Niedermeier helfen – auch wenn der Moment der Prüfung gekommen ist. Das richtige Sitzen mache bereits einen großen Unterschied. "Eine selbstbewusste Körperhaltung und eine ganz einfache Atemtechnik können helfen." Das Atmen unter Kontrolle zu bringen, sei wichtig. "Kurz durch die Nase einatmen und durch den gespitzten Mund wieder ausatmen wäre ein solcher Trick." Auch könne es in der Prüfung hilfreich sein, dem Stress bewusst mit Mut machenden Gedanken gegenzusteuern und sich sein Können bewusst zu machen.

"In der Prüfung war ich plötzlich ganz ruhig"

Auch Vivien hätten die Tipps von Anne Niedermeier so manche schlaflose Nacht erspart. Dass sie sich keine professionelle Hilfe geholt habe, dazu steht die Stuttgarterin – so sagt sie es, aus der entspannten Lage einer stressbefreiten Abiturientin heraus. In der Vorbereitungsphase auf ihre bislang größte Prüfung im vergangenen April stand der Stresspegel bei ihr wieder einmal deutlich im roten Bereich, heute fühlt sich die 19-Jährige völlig erlöst: "In der Prüfung war ich plötzlich ganz ruhig und konnte eigentlich alles so bearbeiten, wie ich mir gewünscht habe. Das war ein befreiendes Gefühl."

Inzwischen hat Vivien keine Blackouts mehr, keine Migräne, keine Panik. Ihre Vorgeschichte dient ihr inzwischen sogar als fester Anker: Die Erfahrungen im Kampf mit der Angst haben sie stärker gemacht. Eine jahrelange Klausurentortur wie die der Stuttgarterin muss trotzdem niemand ohne Hilfe von außen ertragen. Nicht auf dem Weg zum Abitur und auch nirgendwo anders.

* Name von der Redaktion geändert.