In der Serie Mit dem Tod leben protokollieren wir die Erfahrungen von Menschen, die den Tod von Nahestehenden verarbeiten mussten. Was hat ihnen während der Trauer geholfen und haben sie durch den Verlust etwas für sich selbst gelernt?

Vanessa, 29, Magdeburg:

Während der Weihnachtsfeiertage im vorletzten Jahr ist meine Oma alleine in ihrer Wohnung gestorben. Es kam unerwartet. Nach der Arbeit rief mich meine Mama an und bat mich, zur Wohnung meiner Oma zu kommen, ein Arzt wäre auch unterwegs. Ich stand völlig unter Schock. Wir haben zwar geweint, aber rückwirkend betrachtet ist es unglaublich, wie wir einfach funktioniert haben. Meine erste Reaktion war es, meine drei besten Freund*innen anzurufen und ihnen davon zu erzählen. Ich wollte das sofort jemandem mitteilen.

Die richtige Trauer setzte wenig später ein. An Silvester sind wir zurück in ihre 1,5-Zimmer-Wohnung gefahren und haben begonnen, sie auszuräumen. Da ging es mir mies. Es war schwer für mich, ihre Habseligkeiten zu sehen, und ich musste auch mehrere Male unterbrechen, rausgehen und weinen. Ich stand vor einem riesigen Berg an Klamotten, Schmuck und anderen Accessoires, den ich schließlich mit nach Hause nahm, um ihn dort in Ruhe zu sortieren.

Ich kam meiner Oma mithilfe ihrer Habseligkeiten näher

So kam es, dass ich die Silvesternacht damit verbrachte, mich durch ein Leben meiner Großmutter zu wühlen, das ich so nicht kannte. Bei jedem Stück stellte ich mir Bilder und Szenarien vor, an manche konnte ich mich auch erinnern. Was waren wohl die Anlässe, zu denen sie diese Ohrringe getragen hatte? War diese Armbanduhr ein Geschenk? Welche Geschichte steckt hinter dieser Brosche? Ich sah sie vor mir in den Kleidern in der jeweiligen Zeit, entdeckte da einen Hut, hier einen Mantel wieder und fand sogar altes Fotos, auf denen sie diese Sachen anhatte. Diese Momente haben die Schwere in mir ein bisschen eingedämmt.

Drei Stunden lang habe ich alles ausgebreitet, geputzt und sortiert. Und damit hat mein ganz eigener und eigenwilliger Trauerprozess eingesetzt, der sich die nächsten Wochen und Monate fortsetzte. Schon in dieser Nacht wurde meine Trauer zwar nicht besser, aber irgendwie schöner. Es war ein ganz besonderer Prozess von Erkenntnis und Loslassen. Ich habe gemerkt, dass ich ihr nahe bin.

Ich verbrachte die Silvesternacht damit, mich durch ein Leben meiner Großmutter zu wühlen, das ich so nicht kannte.

Abseits der Tränen kamen auch oft andere Gefühle hoch. Am Tag der Beerdigung war ich zum Beispiel richtig wütend. Warum, kann ich gar nicht richtig erklären. Ich fand die Grabrede nicht gut, das Essen beim Leichenschmaus nicht lecker, das Wetter zu kalt. Es waren nur Kleinigkeiten, aber die haben mich zornig gemacht. Vielleicht weil ich mich ohnmächtig fühlte.

Dadurch habe ich schnell gemerkt, dass es für mich am besten ist, alle Gefühle zuzulassen, einfach so stehen zu lassen und ich keine Ansprüche an mich selbst stelle. Meinen Freund*innen sagte ich das offen: Heute bin ich so und so drauf, bitte akzeptiert das. Ich wusste, wie ich unter Stress funktioniere, und diese Freiheit, offen mit meinen Emotionen umzugehen, habe ich mir genommen. Ich habe zwischenzeitlich viel Alkohol getrunken, wusste aber gleichzeitig, dass das wieder aufhört. Ich glaube, sich keinen Druck zu machen, ist ganz wichtig beim Trauern.

Ich erkannte mich selbst in ihren Sachen wieder. Das war eine ganz wunderbare Erkenntnis für mich.

Die Traurigkeit wandelte sich zu etwas Positivem

Meine Oma war Konsumentin mit Leib und Seele, und sie erfreute sich augenscheinlich an den schönen Dingen im Leben. Sie besaß sehr viel davon und ich tauchte ein in ihre Welt aus Farben, Stoffen und Schmuckstücken. Schon am Neujahrestag trug ich eine kleine Auswahl davon. Ich traf mich mit zwei Freund*innen zum späten Frühstück und hatte eine alte Brosche, zwei Ketten und eine Handtasche mit, die sich meine Oma zum Anlass meiner Geburt gekauft hatte.

Natürlich sprachen wir über ihren Tod und das Ausräumen der Wohnung, über all das Schlimme und Traurige und wie es jetzt weitergehen würde. Ich zeigte ihnen den Schmuck und die Tasche, die sie freudig bewunderten und bestaunten. Das tat mir gut. Irgendwie passten die Sachen zu mir, sie trafen meinen Geschmack und meine Art von Eleganz und Stil. Ich erkannte mich selbst in ihren Sachen wieder. Das war eine ganz wunderbare Erkenntnis für mich.

Ich begann ab diesem Zeitpunkt, jeden Tag etwas von meiner Oma zu tragen. Seien es Schuhe, Mäntel, Schals, Schmuck oder andere Accessoires. Ich verschenkte auch vieles von ihrem riesigen Fundus an Freund*innen, an mein Stammlokal und sogar an einen Theaterausstatter. Dadurch war und ist sie auf eine schöne Art immer sehr präsent in meinem Leben. Und meine Traurigkeit wandelte sich langsam zu etwas Positivem. Ich lese heute mehrmals täglich die Zeit von ihrer Armbanduhr ab, stoße ab und zu mit ihren Gläsern an oder wickle mir einen Schal von ihr um den Hals, wenn mir kalt ist.

Ich kann sie sehen, riechen und auch beinahe hören

Das Schöne ist, dass ich immer wieder Komplimente für die Sachen meiner Oma bekomme und darauf immer wieder von ihr erzählen kann. Sie ist in einem kleinen Teil immer dabei, das hat sich richtig manifestiert. Ich mache es mittlerweile nicht mehr bewusst, viele Dinge sind in meinen alltäglichen Gebrauch übergegangen. Richtig bewusst lege ich ihren Schmuck nur an Festtagen an, da ist es mir wichtig.

Wenn ich heute auf ihre Schmuckstücke schaue, kommen mir nicht mehr die Tränen, sondern schöne Erinnerungen.

Ihr Todestag hat sich nun gejährt und ich habe wieder viel über sie nachgedacht und hatte meine traurigen Momente. Aber ich weiß: Meine Oma ist da. Ich kann sie sehen, riechen und wenn ich ihre Kleidung beim Essen bekleckere, kann ich sie sogar liebevoll schimpfen hören. Und das ist schön. Durch ihre Habseligkeiten ist es mir gelungen, auf ganz neue Art und Weise eine Verbindung zu ihr zu finden, ihrer zu gedenken sie bei mir zu behalten. Ich weiß, dass die materiellen Dinge nicht das Wichtigste im Leben eines Menschen sind, aber sie haben meinen Trauerprozess sehr erleichtert. Wenn ich heute auf ihre Schmuckstücke schaue, kommen mir nicht mehr die Tränen, sondern schöne Erinnerungen.Teil 1: "Meine Familie starb an Krebs und ich habe Sinn darin gefunden"

Teil 2: "Ich trage jeden Tag ein Schmuckstück meiner verstorbenen Oma"

Teil 3: Wann uns Trauer reifen lässt