In der zehnteiligen Serie "Mit dem Tod leben" protokollieren wir die Erfahrungen von Menschen, die den Tod von Nahestehenden verarbeiten mussten. Was hat ihnen während der Trauer geholfen, und haben sie durch den Verlust etwas für sich selbst gelernt?

Anja, 20, Dortmund

Ich habe zwei ältere Brüder, aber ich war immer Papas Liebling. Meine Beziehung zu meiner Mama war zwar okay, aber ihn habe ich immer bevorzugt, ich war eben ein Papakind. Wie Mama mir später erzählte, hatte er schon länger Probleme mit Alkohol. Das wurde schlimmer und schlimmer und als ich etwa neun Jahre alt war, ging seine Firma insolvent und er trank immer mehr. Daraufhin ließ sich meine Mama von ihm scheiden und kümmerte sich um uns Kinder. Er suchte sich eine Bruchbude als Wohnung, die er als Zimmermeister selbst wieder auf Vordermann bringen wollte. Dazu kam es nie.

Papa war für mich immer der große Starke; einer, der alles durchstehen kann. Als es dann zwei Jahre später hieß, er läge im Krankenhaus, habe ich ihn nicht besucht. Ich machte mir keine Sorgen, natürlich würde er auch das durchstehen, dachte ich mir. Lieber würde ich ihn zu Hause besuchen, wenn es ihm wieder gut ginge.

Ich saß gerade mit einem meiner Brüder am Küchentisch und machte Hausaufgaben, als das Telefon klingelte. Meine Mama hob ab und ging in den Flur. Wir hörten, wie sie auf einmal zu schluchzen anfing. Sie kam zurück und sagte dann völlig aufgelöst: "Setzt euch lieber, ich muss euch etwas ganz Schlimmes sagen", sagte sie, "Euer Vater ist gestorben." Die Todesursache war ein Multiorganversagen.

Alles ging bergab

In dem Moment haben wir zwar geweint und uns umarmt, aber ich bin dann so schnell wie möglich in mein Zimmer geflüchtet, habe die Tür zugemacht, den Fernseher angemacht und mir irgendeinen Unsinn angesehen. Anstatt die böse Nachricht an mich ranzulassen, machte ich komplett zu, bestimmt für sechs Monate. Jedes Mal, wenn ich in dieser Zeit auf meine Zimmertür sah, dachte ich mir, dass es jeden Moment klopfen und er reinkommen würde. Ich ließ nicht zu, mir vorzustellen, dass mein Vater wirklich komplett weg war.

Ein halbes Jahr später brach es aus mir heraus. Ich war gerade auf die weiterführende Schule gewechselt, als es mir ganz plötzlich klar wurde: Mein Papa kommt nicht wieder. Ich weiß noch, wie ich vor einer Freundin in Tränen ausbrach. Ab diesem Zeitpunkt ging alles bergab.

Ich ließ nicht zu, mir vorzustellen, dass mein Vater wirklich komplett weg war."

Ich weinte nur noch. Die Trauer wurde so groß, dass ich nicht mehr wusste, wie ich damit umgehen sollte. Ich wurde stiller, zog mich zurück. Ich vermute, ich wurde sogar ein wenig depressiv. Als ich ungefähr zwölf oder 13 Jahre alt war, hatte meine Mutter wieder einen Freund, war sehr verliebt und hat uns Kinder viel alleine gelassen. Zu Hause hatte ich also wenig Halt.

Ich fing an zu trinken. Ich traf mich regelmäßig mit Freunden, mit denen ich Jägermeister, Wodka und anderes hochprozentiges Zeug trank. Für Clubs und Bars waren wir zu jung, deswegen trafen wir uns meistens irgendwo draußen. Ich erinnere mich an diese Situationen, in denen ich sturzbetrunken nach Hause kam und noch meiner Mutter begegnete, die meistens gerade auf dem Weg zu ihrem Freund war. Dann tat ich für fünf Sekunden so, als wäre alles in Ordnung, ging hoch in mein Zimmer und kotzte mir die Seele aus dem Leib.

Zur etwa selben Zeit verabschiedete sich mein Appetit. Während ich nach der Scheidung meiner Eltern aus Frust ziemlich viel gegessen hatte, aß ich jetzt kaum noch etwas und meine Kilos purzelten nur so dahin. Gleichzeitig begann ich, mich zu ritzen. War ich zu gestresst oder fühlte ich mich zu leer, nahm ich eine Schere und schnitt mir den Unterarm ein, immer ein bisschen mehr. Später ritzte ich auch die Innenseiten meiner Waden und Stellen, die ich besser verstecken konnte, wie die Hüfte, die Schultern und den Intimbereich. Damit fühlte ich mich irgendwie lebendiger. Heute weiß ich, dass das ein stiller Schrei nach Hilfe war.

Meine Mutter wusste von all dem nichts. Die Situation zu Hause wurde immer angespannter, es gab ständig nur noch Streit. Sie warf mir vor, ungehorsam zu sein, während ich immer wortkarger und abweisender wurde. Heute sagt sie, dass sie meine Hilflosigkeit nicht sehen wollte. Sie sei mit ihren eigenen Problemen und ihrer eigenen neuen Liebe beschäftigt gewesen. Neben dem ganzen Alkohol und dem Ritzen begann ich auch zu kiffen und wurde in der Schule immer schlechter.

Meine Mutter war mir keine Stütze

Meine Mutter erfuhr von alldem über meinen Vertrauenslehrer, dem ich alles erzählt hatte. Ich war geschockt, eigentlich vertraute ich ihr nichts an und wollte das auch nicht. Als ich am selben Tag von der Schule nach Hause kam, merkte ich gleich, dass etwas anders war. Meine Mutter war ungewöhnlich freundlich. In aller Seelenruhe meinte sie, dass mein Lehrer angerufen hätte und ich bitte mal die Wunden zeigen sollte. Als sie sie sah, reagierte sie seltsam, irgendwie übertrieben ruhig. "Ach gut, das ist ja gar nicht so tief", hörte ich sie sagen. Sie war richtig entspannt und hat das Ganze nicht so ernst genommen.

Geändert hat das nichts. Alles lief genauso weiter. Meine Mutter war mit ihrem Freund beschäftigt, ich betrank mich weiterhin regelmäßig, ritzte mir blutige Schnitte in die Haut und kiffte. Wäre meine Beziehung zu meiner Mutter besser gewesen, wäre wohl alles anders gekommen. Das glaube ich wirklich. Aber ich wollte sie aus vielem raushalten, auch emotional, weil sie keine große Stütze war. Trotzdem sehnte ich mich nach Vertrauenspersonen und Bezugspunkten, also musste ich mir diesen Halt woanders suchen. Ich war an meinem Tiefpunkt angelangt.

Die Suche nach Vaterersatz

Ich war gerade 14, als ich begann, mich mit älteren Männern zu treffen. Ich hatte sie meistens vorher online in irgendeinem Forum oder Chat kennengelernt und mit ihnen geflirtet. Ich gab mich als älter aus, in meinen Profilen stand, dass ich 19 Jahre sei. So lernte ich irgendwann einen Mann kennen, der mich sofort beeindruckte. Er sah unglaublich schick aus, hatte viel zu sagen und stand beruflich fest im Leben. Er war doppelt so alt wie ich, 28, und er hatte absurderweise denselben Vornamen wie mein Vater. Mit ihm hatte ich eine Vaterfigur gefunden, in die ich mich verliebte.

Unsere Beziehung hielt ich geheim, niemand wusste davon, ich nahm ihn auch nie mit nach Hause. Wenn meine Mutter fragte, wo ich am Wochenende gewesen sei, log ich. Denn ich wusste, sie würde es mir verbieten.

Mit meinem älteren Freund hatte ich eine Vaterfigur gefunden, in die ich mich verliebte."

So schön diese Liebe anfangs war, so schnell führte sie in eine Abhängigkeit. Seine Meinung wurde das Allerwichtigste für mich. Er war jemand, der mir eine Richtung gab, der mir sagte, was gut und was schlecht für mich ist, der mich auch ein bisschen erzog. In der Schule wurde ich langsam besser und auch ich fühlte mich ein wenig besser. Auch wenn mein Selbstbild immer noch von Selbsthass geprägt war und ich mir weiterhin Schnitte einritzte. Eine erwachsene Bezugsperson zu haben, tat mir trotzdem gut.

Das war die eine Seite. Auf der negativen Seite erzog er mich auch auf eine Art und Weise, die nicht gut für mich war. Eines Morgens zum Beispiel, ich war gerade auf dem Weg zur Schule, sah ich auf mein Handy. 30 Nachrichten warteten auf mich und sie alle drehten sich um mein Gewicht. Ich sei ekelhaft fett, ich würde ihn anwidern und wolle so auch nicht mit mir schlafen. Ich kam völlig aufgelöst in die Schule und konnte kaum aufhören zu weinen. Folglich aß ich noch weniger als vorher. Mit meinen etwa 170 Zentimetern Körpergröße wog ich irgendwann nur noch 49 Kilo.

Zum Glück bildete sich in der Schule eine neue Freundschaft. Mit Kim unternahm ich Dinge, die normale Jugendliche auch taten. Wir gingen gemeinsam auf normale Partys, tranken in normalem Maße Alkohol, hingen mit anderen Leuten ab. In ihrer Nähe fühlte ich mich wohl. Ich vertraute ihr, sodass ich sie eines Tages mit zu meinem Freund nahm. Erst sie konnte mir später klarmachen, wie gestört diese Beziehung war. Und ich sah ein, dass sie recht hatte.

Dann begann ich langsam, mich abzunabeln. Der Trennungsprozess dauerte noch mal so lange wie die Beziehung selbst, ungefähr ein Jahr. Danach, mit 17, ging ich eine weitere Beziehung ein, mit einem 24 Jahre alten Mann, mit dem ich den ganzen Tag Bong rauchte. Als er sich um die Abizeit von mir trennte, war ich ehrlich gesagt nicht ganz unglücklich darüber. Es war immer noch eine Zeit, in der ich mich nicht gut selbst mitteilen konnte. Ich hatte Verlustängste und mich nicht getraut, über negative Dinge zu sprechen. Lieber fraß ich alles Schlechte so lange in mich hinein, bis es aus mir herausplatzte, genau wie mit der Trauer über meinen Papa. Bei der Trennung wusste ich insgeheim, dass es der bessere Weg sein würde.

Ich gewöhnte mich daran, keinen Vater zu haben

Ich konnte die Schule abschließen und nach dem Abi begann langsam der Prozess der Heilung. In mir stieg ein Gefühl auf, das ich so noch nicht kannte: das Gefühl, nicht mehr ohnmächtig zu sein. Das Gefühl, auch anders zu können, als mich selbst schlecht zu behandeln oder mit Leuten abzuhängen, die mir nicht gut taten.

Heute bin ich 20 und weiß, dass alles, was ich getan habe, Methoden zur Bewältigung waren. Ich habe mich selbst dafür gehasst, Papa nicht noch mal im Krankenhaus besucht zu haben, ihn nicht noch mal sehen und umarmen zu können. Meine eigene Strafe dafür war mein selbstzerstörerisches Verhalten, der Alkohol, das Gras, diese sinnlosen Beziehungen. Irgendwann habe ich mich dann genauso für dieses Verhalten gehasst. Trotzdem haben mir diese falschen Entscheidungen geholfen, mich selbst besser zu verstehen. Und wenn ich etwas aus den beiden Beziehungen mit älteren Männer gelernt habe, dann dass ich in der Lage bin, mich von Dingen zu lösen. Alkohol und Gras nehme ich mittlerweile kontrollierter zu mir, wie normale Menschen in meinem Alter. Geritzt habe ich mich seit zwei Jahren nicht mehr. Ich musste erst mal alles Schlechte zulassen, um daraus letztlich etwas Gutes schöpfen zu können.

Ich weiß, ich habe die Trauer nicht komplett bewältigt. Aber ich glaube auch, dass ich so weit mit der Trauerbewältigung gekommen bin, wie ich kommen kann. Ich habe mich daran gewöhnt, keinen Vater zu haben. Wenn ich bei Freunden bin und deren verliebte Eltern sehe, oder wenn jemand öfter das Wort Papa benutzt, kribbelt es zwar kurz in mir. Dann kommen Erinnerungen hoch, ich bin kurz bedrückt, aber es wirft mich nicht zurück. Ich wohne noch zu Hause, aber die Beziehung zu meiner Mutter ist deutlich besser als früher. Die Situation ist okay so wie sie ist, sonst wäre ich längst ausgezogen.

Ich musste erst mal alles Schlechte zulassen, um daraus letztlich etwas Gutes schöpfen zu können."

Wir sprechen zu Hause selten über Papa. Da ich erst elf war, als er gestorben ist, habe ich nur einen begrenzten Ausschnitt von ihm in meinen Erinnerungen. Für mich war er der perfekte Papa und dieses Bild möchte ich mir bewahren. Wenn Mama von ihrem Pech mit Männern erzählt und dabei auch Papa erwähnt, ist das immer noch schwer für mich zu verkraften. Ich weiß nicht, ob sich das jemals ändern wird. Jedes Mal, wenn sie schlecht über ihn spricht, möchte ich lieber aus dem Gespräch raus.

Mittlerweile studiere ich Deutsch und Sozialwissenschaften auf Lehramt und ich habe mich neu verliebt. Wir führen eine gute Fernbeziehung zwischen Dortmund und Berlin. Er ist toll, genau wie meine Freunde hier. Mir geht es momentan so gut, dass ich mir manchmal Sorgen darüber mache, wir zerbrechlich alles ist. Auch wenn es absurd ist, aber so abgedroschene Sprüche wie "Die Zeit heilt alle Wunden" sind einfach so wahr. Ich habe so viel Positives aus den vergangenen Jahren mitgenommen. Meine Hoffnungslosigkeit hat sich zu einem hoffnungsvollen Denken gewandelt. Ich kann jetzt in die Zukunft denken und sehe positive Dinge. Das ist ein schönes Gefühl.Teil 1: "Meine Familie starb an Krebs, und ich habe Sinn darin gefunden"

Teil 2: "Ich trage jeden Tag ein Schmuckstück meiner verstorbenen Oma"

Teil 3: Wann uns Trauer reifen lässt

Teil 4: "Seit mein Papa tot ist, hat sich Angst in mein Leben gefressen"

Teil 5: "Omas Versicherungen abzuwickeln war wie ein zweiter Abschied"

Teil 6: Wie ich den Verlust meines Sohnes bewältigt habe