In der zehnteiligen Serie Mit dem Tod leben protokollieren wir die Erfahrungen von Menschen, die den Tod von Nahestehenden verarbeiten mussten. Was hat ihnen während der Trauer geholfen, und haben sie durch den Verlust etwas für sich selbst gelernt?

Stephanie, 32, Rostock

Bis zur Geburt meiner Zwillinge hatte ich vier Fehlgeburten. Bis heute konnte niemand klären, warum. Im Februar 2016 war ich dann das fünfte Mal schwanger: mit einem Sohn und einer Tochter. Ab der Hälfte der Schwangerschaft zeichnete sich ab, dass mein Sohn einen schweren Herzfehler hatte. Für die Geburt reisten wir deshalb zum Deutschen Herzzentrum nach Berlin. Wir wohnten nebenan in einem Apartment, welches das Krankenhaus uns vermittelte und das durch Spendengeld finanziert wird.

Die Ärzt*innen sagten, dass sie meinen Sohn nur operieren könnten, wenn er nach der Entbindung mehr als zwei Kilo wiegen würde. Doch meine Kinder kamen neun Wochen zu früh zur Welt. Mein Sohn wog 1.560 Gramm. Nach der Geburt kamen beide auf die Intensivstation, und er erhielt starke Medikamente für sein Herz. Zunächst hieß es, dass er sich gut entwickeln würde. Doch dann kam nachts ein Anruf, in dem uns gesagt wurde, dass es ihm sehr viel schlechter ginge. Zwölf Stunden nach der Operation starb er.

Ich war nicht bereit zu trauern.
Stephanie

Trotz der schlechten Nachrichten habe ich bis zu diesem Zeitpunkt nie daran gedacht, dass er sterben könnte. Wirklich trauern konnte ich zu dieser Zeit noch gar nicht. Ich war weder bereit dazu noch im richtigen Umfeld. Mein Mann und ich haben sechs Wochen in dem Apartment neben dem Krankenhaus verbracht und nicht zu Hause. Außerdem mussten wir uns ja um unsere Tochter kümmern, die noch immer auf der Intensivstation lag. Wir wechselten uns ab. Ich saß jeden Tag sechs bis sieben Stunden an ihrem Bett.

Wir haben vor allem funktioniert und den Tod unseres Sohnes zu Beginn von uns geschoben. Aber auf dem Weg von unserer Tochter zum Apartment kamen wir jeden Tag an der Pathologie vorbei. Wir wussten: Dort liegt unser toter Sohn.

Was den Tod greifbar gemacht hat

Es gab zwei Dinge, die mir in dieser Zeit sehr geholfen haben. Zum einen hat uns ein Oberarzt kurz vor dem Tod unseres Sohnes angeboten, ihn noch taufen zu lassen. Das war meinem Mann wichtig, der religiös aufgewachsen ist. Dafür kam eine Pfarrerin der Krankenhausseelsorge auf die Station. Eine Schwester hat dann sogar noch ein Foto von uns vieren gemacht. Dafür haben sie extra meine Tochter von der Intensivstation geholt. So komisch es war, in dieser Situation ein Foto machen zu lassen; es hat mir gezeigt, dass wir kurzzeitig mal zu viert waren und dass es nicht nur eine Erinnerung ist. Mit der Zeit verwaschen Erinnerungen, und dieses Foto zeigt mir, dass er tatsächlich da war. Heute liegt das Bild in unserer Wohnung in Rostock in einer Schublade. Ich habe es seitdem kein einziges Mal angesehen, aber es ist einfach gut zu wissen, dass es da ist. Im Wohnzimmer auf einem Regal stehen eine Kerze und ein Engel von der Taufe meines Sohnes.

Greifbar wurde der Tod meines Sohnes durch seine Einäscherung. Wir haben ihn dafür vorbereitet, ihm Sachen angezogen, die für ihn gestrickt wurden. Wir haben ihm Fotos der Familie und ein Stück Kuscheldecke mit in den Kindersarg gelegt und ihn eigenhändig hineingelegt. Das war für mich sehr wichtig, um zu begreifen, was da gerade passiert ist.

Die zweite Sache, die mir sehr geholfen hat, war der Kontakt zur Elternberatung des Krankenhauses. Eine ehemalige Krankenpflegerin mit Zusatzausbildung hat meinen Mann und mich betreut. Es ging um praktische Fragen, etwa die, wie wir unseren Sohn bestatten können, aber auch darum, wie Trauer überhaupt verläuft. Ich habe noch nie jemanden Nahestehenden verloren, und es war für mich eine komplett neue Situation. Sie hat uns auch gesagt, dass wir so trauern dürfen, wie wir möchten und auch so darüber reden können, wie und wann wir möchten. Vor allem Letzteres war ein wichtiger Punkt, wie sich später noch zeigen würde.

Mein Mann und ich trauern unterschiedlich

Durch die Beratung habe ich gelernt, dass Trauer in Wellen kommt und dass mein Mann und ich unterschiedlich trauern. Das war sehr wichtig. Es gab Situationen, in denen ich glücklich war, weil meine Tochter etwas Neues gelernt hat und mein Mann kam nach Hause und war fix und fertig, hat sich auf die Couch gesetzt und angefangen zu weinen. Ich habe ihn dann einfach in den Arm genommen und musste nicht mal groß etwas sagen. Mein Mann ist in der Trauer immer sehr ruhig geworden und war fast nicht mehr ansprechbar.

Umgekehrt gab es auch Situationen, in denen ich sehr traurig war und es meinem Mann besser ging. Es hat mir zum Beispiel wahnsinnig weh getan, Zwillingskinder zu sehen, und zu Beginn konnte ich das Lachen von Kindern nur schwer ertragen. In solchen Momenten hat er sich um unsere Tochter gekümmert und ich bin duschen gegangen und habe zum Beispiel meine Nägel gefeilt. In dieser Zeit konnte ich meinen Gedanken nachhängen und trauern. Es ist nicht so, dass ich danach sofort wieder auf 100 Prozent gewesen bin, aber es ging mir definitiv besser und ich wusste: Jetzt ist wieder Leben angesagt.

Es hat wahnsinnig weh getan, Zwillingskinder zu sehen.
Stephanie

Ich würde sagen, dass unsere Bindung durch diese Erfahrung sogar noch etwas enger geworden ist. Uns ist klar geworden, dass der andere anders tickt, selbst wenn man dieselben Ziele hat. Man kann den anderen nie zu 100 Prozent verstehen, aber das muss man auch gar nicht. Es reicht zu wissen, dass er trotzdem für mich da sein wird.

Es ist so wichtig, darüber zu sprechen

Was mir der Tod meines Sohnes gezeigt hat: Es ist so wichtig, offen darüber zu sprechen. Aber sehr viele Leute tun sich schwer damit. Bis meine Mutter zum Beispiel wirklich mit mir darüber reden konnte, hat es echt gedauert. Eine Tante wollte gar nicht über dieses Thema reden. Sie sagte: "Da reden wir jetzt nicht mehr drüber. Das ist jetzt vorbei."

Aber wie soll man trauern, wenn man nicht darüber sprechen darf? Die Gespräche mit der Elternberatung haben mich auf solche Situationen vorbereitet. Ich wusste, dass es in Ordnung ist, dass ich weine, wenn alle lachen oder wenn ich auf dem Nachhauseweg in Tränen ausbreche.

Viele Menschen waren peinlich berührt, wenn ich den Tod meines Sohnes angesprochen habe oder sie glaubten, dass sie unbedingt Mitleid empfinden mussten. Was ich viel besser finde: Einfach ehrlich Interesse zeigen, zuhören, ein paar Fragen stellen. Enttäuscht war ich von der Reaktion einiger Freund*innen und Bekannter. Da kamen dann Nachrichten wie: "Wenn du was brauchst, meld dich." Aber in so einer Phase sollte es doch umgekehrt sein. Sie sollten sich melden. Es muss ja auch nichts Großes sein. Einfach kurz fragen, wie es geht und selbst ein bisschen erzählen, wie es bei einem läuft. Der Alltag läuft eben weiter und gibt durch Normalität etwas Stabilität in Zeiten eines emotionalen Ausnahmezustandes.

Was ich allen Eltern in ähnlichen Situationen mitgeben möchte: Ihr seid nicht alleine, aber ihr müsst über eure Sorgen, Ängste und Erinnerungen sprechen und auch ein klein wenig aktiv werden, euch über Hilfsangebote und Trauerbegleitung informieren. Ich habe gelernt, dass nur ein aktiver Umgang mit Trauer hilft, zu verarbeiten, ohne zu vergessen.

Wichtig ist auch, sich über das eigene Ende Gedanken zu machen und diese schriftlich festzuhalten. Es gibt den Hinterbliebenen das Gefühl, noch etwas nach dem Tod tun zu können und lässt sie nicht hilflos zurück. Vielleicht ist mir das auch so wichtig, weil ich um jemanden getrauert habe, den ich nie wirklich kennengelernt habe und dessen Wünsche und Bedürfnisse ich nie kannte und der trotzdem immer Teil unserer Familie sein wird.Teil 1: "Meine Familie starb an Krebs, und ich habe Sinn darin gefunden"

Teil 2: "Ich trage jeden Tag ein Schmuckstück meiner verstorbenen Oma"

Teil 3: Wann uns Trauer reifen lässt

Teil 4: "Seit mein Papa tot ist, hat sich Angst in mein Leben gefressen"

Teil 5: "Omas Versicherungen abzuwickeln war wie ein zweiter Abschied"