In der Serie Mit dem Tod leben protokollieren wir die Erfahrungen von Menschen, die den Tod von Nahestehenden verarbeiten mussten. Was hat ihnen während der Trauer geholfen und haben sie durch den Verlust etwas für sich selbst gelernt? 

Kerstin, 53, Minden (Nordrhein-Westfalen):

Ich war 17, als mein Vater begann, häufig Dinge zu vergessen und plötzlich einen Arm nicht mehr spürte. Er kam mit dem Verdacht auf einen Schlaganfall ins Krankenhaus. Dort stellten die Ärzte einen Hirntumor fest und operierten ihn, doch sie konnten nicht alles entfernen. Er blieb in der Klinik und wurde bestrahlt.

Die Ärzte sagten meiner Mutter und mir, dass er höchstens noch ein Jahr zu leben hätte. Und wir sollten nicht mit ihm darüber reden, um ihn zu schonen. Ich fand das komisch, aber habe mich daran gehalten.

Als er wieder zu Hause war, musste er erst wieder sprechen lernen und zurück ins Leben finden. Eine Zeit lang ging es ihm ganz gut, aber sein nahender Tod lag immer in der Luft. Es war seltsam, nicht darüber reden zu dürfen. Stattdessen sprachen wir am Esstisch über das Wetter oder Politik. Trotzdem habe ich gespürt, dass auch er wusste, dass er bald sterben würde.

Ich habe versucht, mein Leben normal fortzuführen. Oft hatte ich das Bedürfnis, tanzen zu gehen, habe aber auch alleine in meinem Zimmer geweint.

Dann verschlechterte sich sein Zustand und wenig später starb er. Ich habe versucht, einen Sinn in seinem Tod zu finden, aber es fiel mir schwer. Ich fand keine Erklärungen und habe mich oft alleine gefühlt. Ich hatte damals meinen ersten Freund und habe mich oft gefragt, wie Papa ihn wohl finden würde.

Auch Schwester und Mutter erkrankten

Wenig später begann ich eine Ausbildung zur Fachkraft in der gerontopsychiatrischen Pflege. Schon während der Schulzeit habe ich Praktika in Behinderten- und Pflegeheimen gemacht und hatte eine Affinität zu alten, kranken und dementen Menschen. Warum, kann ich nicht genau sagen.

Als ich 20 Jahre alt war, lernte ich meinen jetzigen Mann kennen und wir zogen ein paar Orte weiter aufs Land. Die Jahre vergingen und mit 30 war ich gerade mit meinem vierten Kind schwanger, als meine Mutter an Hautkrebs erkrankte. Kurz darauf kam noch Brustkrebs dazu. Meine zehn Jahre ältere Schwester bekam fast gleichzeitig Gebärmutterhalskrebs. Diese Zeit war ein ziemlicher Horror, alles drehte sich nur noch um Blutwerte und Therapien.

Ich schwankte zwischen der Hoffnung, dass sie wieder gesund werden würden, und der Angst vor ihrem Tod. Doch im Gegensatz zum Sterben meines Vaters haben wir sehr offen über den Tod gesprochen.

Ich konnte zumindest Abschied nehmen

Bei beiden war klar, dass sie sterben würden. Anders als bei Papa hatte ich aber zumindest das Gefühl, Abschied nehmen zu können. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meiner Mutter kurz vor ihrem Tod, als ich sie im Pflegeheim besuchte. Ich saß an ihrem Bett und fragte sie: "Kann ich dir noch etwas Gutes tun?" Sie sah mich an und sagte: "Kerstin, du tust mir jeden Tag Gutes." Gespräche wie diese haben mir sehr geholfen.

Meine Mutter starb im März 1995, meine Schwester ein Jahr später. Mit den vier Kindern und meinem Teilzeitjob in der Altenpflege hatte ich kaum Zeit zu trauern. Und doch fühlte ich mich so hilflos und alleine. Wenn Freunde von ihren Eltern erzählten, dachte ich mir: "Jetzt ist da niemand mehr, den ich fragen kann: 'Wie war das früher bei dir?'"

Ich hatte oft Angst, dass ich als nächstes Krebs bekommen würde.

Geholfen haben mir meine Besuche an einem kleinen See in der Nähe. Ich fuhr mit dem Auto dorthin und hörte laut Musik. Dann saß ich auf dem Boden am Ufer, blickte aufs Wasser und weinte. Danach fühlte ich mich etwas gestärkt. Ich habe viel mit mir selbst ausgemacht.

Doch die Frage nach dem Sinn ließ mich nicht los. "Warum passiert gerade mir das? Warum darf ich bleiben und sie mussten gehen?" Und ich hatte auch oft Angst, dass ich als nächstes Krebs bekommen würde.

Etwa ein Jahr nach dem Tod meiner Schwester las ich einen Artikel, in dem es darum ging, dass in meinem Ort ein Hospizverein gegründet werden sollte. Das Thema war damals noch neu. Sofort hatte ich den Impuls: Das schaust du dir an. Wenn man so will, habe ich mich direkt nach dem Tod meiner Familie wieder dem Tod zugewandt. Nur war es dieses Mal der anderer Menschen.

Mit den Vereinsmitgliedern konnte ich mich gut austauschen. Vielleicht musste ich erst lernen zu trauern und mich meinen Gefühlen zu stellen. Durch die beiden unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem Tod in meiner Familie habe ich gelernt: Es ist so wichtig, offen und ehrlich darüber zu sprechen. Das wollte ich weitergeben.

Im Angesicht des Todes verstellt sich niemand mehr.

Der Verein hat Sterbende und Trauernde begleitet. Einmal betreute ich einen herrischen Mann, der keinen Kontakt mehr zu seinen Söhnen hatte. Er wollte sie noch mal sehen und sich bei ihnen entschuldigen. Ich erreichte einen seiner Söhne und erzählte ihm, dass sein Vater bald sterben würde. Er sagte: "Ich schaffe ich das nicht. Ich möchte nicht mehr mit ihm sprechen. Aber sagen Sie ihm, es ist alles gut."

Ich teilte es ihm mit und wenige Stunden später starb er friedlich. Diese Momente geben mir so viel; dieses Gefühl, in all der Schwere etwas bewirken zu können. Für mich sind die Begegnungen mit Sterbenden und ihren Angehörigen eine Gnade. Das sind die reinsten und ehrlichsten Momente in meinem Leben. Im Angesicht des Todes verstellt sich niemand mehr.

Die Frage nach dem Sinn hat sich beantwortet

Vor einigen Jahren dachte ich: "Such dir doch mal was anderes, etwas Leichteres." Also habe ich ein Ausbildung zur Projektmanagerin begonnen und mich selbstständig gemacht. Doch ich bekam keine Aufträge. Ich habe gemerkt, dass ich nicht jemand anderes sein kann. Heute gebe ich Schulungen zum Thema Kommunikation in der Sterbebegleitung. Das bin einfach ich. Und so hat sich für mich auch die Frage nach dem Sinn beantwortet. Sie mussten gehen und ich durfte bleiben, um diese Aufgabe zu übernehmen. Der Kreis hat sich geschlossen. Ich durfte mit meinem Vater nicht über seinen Tod reden und zeige nun Menschen, wie sie über das Sterben sprechen.

Ich habe gelernt, grundlos optimistisch zu sein.

Durch die vielen Todesfälle in der Familie und im Beruf habe ich gelernt, dass es sich bei Vielem nicht lohnt, sich darüber aufzuregen. Ich liebe das Leben und bin sehr optimistisch. Durch mein Enkelkind habe ich sogar gelernt, grundlos optimistisch zu sein. Er ist mehrfach behindert und wird nie laufen können. Aber wenn seine ältere Schwester neben ihm läuft, liegt er auf dem Boden daneben und lacht. Das sind wunderschöne Momente, die mir zeigen, wie kostbar das Leben ist.Teil 1: "Meine Familie starb an Krebs und ich habe Sinn darin gefunden"

Teil 2: "Ich trage jeden Tag ein Schmuckstück meiner verstorbenen Oma"

Teil 3: Wann uns Trauer reifen lässt