Am späten Dienstagabend spuckten die Eilnachrichten die letzte News des Tages aus: Die derzeitige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) wird von den EU-Regierungschef*innen offiziell als EU-Kommissionspräsidentin vorgeschlagen. Diese Entscheidung ist vor allem eines: ein ausgestreckter Mittelfinger in Richtung der Bürger*innen der EU. Und ein ausgestreckter Mittelfinger in Richtung Demokratie und Transparenz.

Im Vertrag von Lissabon steht, dass der*die Kommissionschef*in vom Europäischen Rat, der aus den Staats- und Regierungschef*innen der Mitgliedsländer besteht, nominiert wird. Dabei soll das Ergebnis der Europawahl berücksichtigt werden – konkreter wird es nicht. Der*die Kandidat*in muss dann von einer Mehrheit des EU-Parlaments bestätigt werden. Vor 2014 wurde also faktisch hinter verschlossenen Türen der nächste Kommissionspräsident ausgehandelt. Bislang waren das nur Männer. Er war das Ergebnis eines Ringens zwischen den verschiedenen Interessen der Mitgliedsstaaten.

Die Spitzenkandidat*innen: Ein Versuch, die EU transparenter zu machen

2014 wollte man die EU transparenter und demokratischer machen. Nicht die Mitgliedsstaaten sollten über eines der wichtigsten Ämter der EU bestimmen, sondern die EU-Bürger*innen. Die Union sollte parlamentarischer werden, Entscheidungen also vermehrt im Parlament statt in Hinterzimmern getroffen werden. Damals führte man das sogenannte Spitzenkandidat*innenprinzip ein. Die europäischen Parteienbündnisse einigten sich vor der Europawahl auf eine*n Spitzenkandidat*in. Der*die Kommissionspräsident*in sollte aus diesen Spitzenkandidat*innen hervorgehen – je nachdem, wer eine Mehrheit im Parlament findet. Auf dieses Verfahren einigten sich das EU-Parlament und die Regierungschef*innen.

Vor der diesjährigen Europawahl wurde suggeriert, dass dieses Verfahren abermals zum Einsatz kommen würde. Ursula von der Leyen war keine europäische Spitzenkandidatin – für die Konservativen trat der deutsche CSU-Politiker Manfred Weber an.

Die Message, die die EU-Regierungschef*innen nun durch ihre Nominierung von Ursula von der Leyen vermitteln, lautet: Am Ende entscheiden wir. Unsere Interessen sind wichtiger als der europäische Wille der Bürger*innen. Wir wollen keine Macht abgeben.

Starke Nationen oder starkes Europa?

Als EU-Bürger*innen müssen wir uns die Frage stellen: Wie soll sich die Union weiterentwickeln? Sind wir weiterhin für starke Nationalstaaten, die, wie bisher, nur per Vertrag eine Union bilden? Bislang sind es die Nationalstaaten, die in der EU den Ton angeben. Das EU-Parlament, die einzig direkt von den Bürger*innen gewählte Institution der Union, hat nicht einmal ein Initiativrecht, um eigene Gesetze einzubringen. Von einer europäischen Demokratie kann also bisher keine Rede sein.

Oder wollen wir, dass die Union weiter zusammenwächst. Dass nicht mehr die Nationalstaaten, die hauptsächlich nationale Interessen vertreten, über die Geschicke der EU bestimmen, sondern dass die EU Schritt für Schritt in Richtung einer europäischen Demokratie geht, in der gesamteuropäische Interessen aller Bürger*innen über nationalen Interessen stehen. Ein Schritt hin zu mehr gesamteuropäischer Demokratie war die Einführung des Spitzenkandidat*innenprinzips. Ein nächster Schritt hätte beispielsweise die Einführung transnationaler Listen sein können – damit auf den Listen der Europawahl in Deutschland nicht nur deutsche Abgeordnete, sondern Abgeordnete aus allen EU-Staaten stehen.

Feministische Hinterzimmer?

ZEIT-Kollege Matthias Krupa schreibt, Ursula von der Leyen stehe für Aufbruch – Europa könne durch sie weiblicher und globaler werden. Natürlich wäre es ein bedeutungsvolles Zeichen, wenn das wichtigste EU-Amt erstmals von einer Frau bekleidet werden würde. Die Frage lautet: Ist dieses Zeichen wichtiger als ein Zeichen für mehr Demokratie? Und: Können feministische Siege wirklich in denselben Hinterzimmern errungen werden, in denen bislang Politik von weißen, meist älteren Männern betrieben wird?

Ob von der Leyen tatsächlich den Kommissionsvorsitz übernimmt, bleibt abzuwarten. Das Europäische Parlament zeigte sich bislang kämpferisch – es wolle am Spitzenkandidat*innenprinzip festhalten, hieß es bisher aus den großen Fraktionen der Konservativen, Sozialdemokrat*innen und Grünen. Und ohne eine Mehrheit im Parlament, kein Kommissionsvorsitz. Immerhin so wehrhaft ist die europäische Demokratie.