Eigentlich sehe ich auf meiner Instagram- und Facebook-Timeline seit Jahren nichts anderes als Fotos von grinsenden Backpacker*innen in Ländern mit exotischen Namen. Am Anfang hatte ich noch gedacht, dass es sich um einen kurzfristigen Trend der Post-Abi-Phase handle, geboren aus jugendlicher Unsicherheit und dem, was ich das Kindergeburtstagssymptom nenne: Wer zu Hause nie Süßigkeiten essen durfte, schlägt sich bei der Geburtstagsfeier der Freundin dann den Bauch voll, als gäbe es kein Morgen mehr. Kann man ja auch verstehen.

Warum Selbstverwirklichung so im Trend liegt

Komisch und erschreckend erscheint mir allerdings, dass der Trend irgendwie anhält. Ein*e Bekannte*r nach der anderen kündigt gerade ihren*seinen Job oder setzt ein Jahr im Studium aus, um noch etwas frische Luft in Kolumbien zu schnuppern, die ihn*sie daran erinnern soll, wer er*sie eigentlich ist. Nach der einjährigen Weltreise wird dann noch ein freiwilliges soziales Jahr drangehängt, weil immer noch keine Klarheit herrscht. Der Andenwind hatte einem irgendwie widersprüchliche Dinge zugeflüstert. Dann fängt man ein Studium an und bricht es wieder ab, das geht ein paar Jahre so, das warme, wohlige Gefühl hat sich einfach bei noch keinem Fach eingestellt.

Was ist da los? Ist das Unsicherheit und Überforderung, oder sind wir vielmehr soweit, dem altmodischen Ideal der Notwendigkeit von Arbeit und Konsequenz den Rücken zu kehren, um endlich freier und authentischer zu leben? Anders gefragt: Muss ich trotzdem arbeiten, auch wenn mein Studium oder Job mich nicht glücklich macht oder ich noch nicht das Richtige für mich gefunden habe?

Es gibt zwei offensichtliche Gründe, warum Extremreaktionen wie die arbeitsverweigernde Flucht auf andere Kontinente und das ständige Wanken, Wechseln und Abbrechen für die Selbstverwirklichung so im Trend liegen. Warum niemand mehr einfach ein Studium oder eine Ausbildung wählt und abschließt, um dann einen Job zu machen und mit diesem zufrieden zu sein.

Erstens werden wir heute beruflich immer mehr gefordert und stehen unter immer noch größerem Druck, ständig verfügbar zu sein. Homeoffice, Freelancing und Smartphones machen es möglich. Das Wort Feierabend müssten wir eigentlich aus dem Duden streichen. Meist weiß ich nicht einmal, wann Sonntag ist. In der Stadt, in der ich wohne, sind die Bibliotheken und Geschäfte immer 24 Stunden geöffnet, 365 Tage im Jahr. Job-E-Mails beantworte ich auch um vier Uhr nachts und arbeite, wann es mir passt, also eigentlich fast immer.

"Das Leistungssubjekt, das sich frei wähnt, ist in Wirklichkeit ein Knecht. Es ist insofern ein absoluter Knecht, als es ohne den Herrn sich freiwillig ausbeutet", kritisiert der Kulturphilosoph Byung-Chul Han in Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Angesichts solch einer Verlagerung der Arbeit in die Privatsphäre, die keine von außen gesetzten Erholungspausen mehr kennt, lässt sich vielleicht nachvollziehen, warum so viele junge Menschen vor Überforderung oder aus Protest dem Arbeitsalltag lieber ganz den Rücken zukehren oder ein Studium nach dem anderen abbrechen.

Zweitens entsteht eine ganz andere Art von Druck durch den vom Kapitalismus immer stärker geforderten Identifikationszwang. Man soll nicht nur viel und immer arbeiten, sondern man soll seine Arbeit auch noch gerne machen. Je mehr uns vermittelt wird, dass wir lieben sollen, was wir tun, und dass wir einen Beruf wählen sollen, für den unser Herz voll und ganz schlägt, der unseren innersten Fähigkeiten und Trieben entspricht, desto unsicherer werden wir natürlich in unserer Wahl. Wir müssen ständig zweifeln: Macht mich mein Beruf überhaupt glücklich genug?

Hauptsache, man arbeitet

So dunkel jene Vorstellungen der gegenwärtigen Arbeitswelt auch scheinen, sie deuten nicht unbedingt darauf hin, dass alles hoffnungslos ist und der einzige Ausweg in der kompletten Verweigerung besteht. Vielmehr könnten wir einfach unsere Einstellung zu der Arbeit, die wir gerade verrichten, ändern. Denn selbst wenn wir nicht ständig grinsend und vor Glück überschäumend am Schreibtisch sitzen, und sogar, wenn unsere Arbeit keinen ethischen Nutzen für die Gesellschaft, keine Anerkennung oder ein großes Gehalt verspricht, dann bleibt noch ein anderer Zweck des Arbeitens übrig, womöglich sogar der allerwichtigste.

Hegel zum Beispiel setzt Arbeiten mit Handeln gleich. Erst durch die erlösende Kraft der Arbeit werde das Tier zum Menschen und der Knecht mächtiger als sein Herr, der die Arbeit bloß konsumiere und somit vollständig auf seinen Knecht angewiesen sei. Im Arbeiten erkennen wir uns selbst und werden somit frei.

Kant geht sogar noch weiter, indem er die Arbeit nicht nur zur Bedingung für die Menschwerdung erklärt, sondern die mit ihr einhergehende Disziplin und Konsequenz sogar als notwendige Übungen betrachtet, um ein besserer und moralischerer Mensch zu werden. Erst wer jeden Morgen pünktlich an seinem Schreibtisch sitzt, weiß, was Pflicht ist. Das überträgt sich dann automatisch positiv auf andere Bereiche wie die Moral. Wer es trotz des verlockenden Sonnenscheins draußen schafft, den ganzen Tag im dunklen Büro abzusitzen, dem*der fällt es auch in anderen Lebenslagen leichter, beispielsweise dem*der Partner*in treu zu sein und den Eigennutz hintenanzustellen. Arbeiten lehrt uns, den tückischen Versuchungen des Menschseins zu widerstehen.

Für den Selbstzweck des Arbeitens argumentiert auch der Philosoph Alan de Botton in seinem erst vor ein paar Jahren erschienenen Buch Freuden und Mühen der Arbeit, in dem er die Arbeit als positiven Ablenkungsmechanismus lobt. "Es fällt schwer, an den Tod zu denken, wenn es Arbeit zu tun gibt." Welche Arbeit das dann sei, ob eine als Kekshersteller*in oder Maschinenölverkäufer*in, ist erstmal zweitrangig: "Unsere Arbeit wird uns zumindest abgelenkt haben, wird die perfekte Seifenblase gewesen sein, auf der wir all unser Trachten nach Perfektion setzen, wird unsere uferlosen Sorgen auf ein paar vergleichsweise überschaubare Ziele gerichtet und uns das Gefühl gegeben haben, etwas geleistet, uns rechtschaffen müde gemacht und etwas zu essen auf den Tisch gebracht zu haben."

Langeweile darf auch mal sein

Unabhängig vom Gehalt, Produkt oder Spaß, den die Arbeit letztendlich einbringt, ist sie bei allen diesen Philosophen ein Zweck an sich. Hauptsache, man arbeitet überhaupt. Folgten wir also ihrem Rat, dann müssen wir unsere Strategie ändern: Wir dürfen nicht chillen, reisen und warten, bis wir herausgefunden haben, wer wir wirklich sind, um dann einen Beruf zu wählen, der mit diesem Sein übereinstimmt. Stattdessen erschaffen wir uns unser Sein erst im und durchs Arbeiten. Entgegen der verbreiteten Backpacker*innenmentalität steht das Arbeiten also an erster Stelle, um dann später genau dadurch herauszufinden, wer wir sind.

Das aber funktioniert nur, wenn wir einsehen, dass nicht alles immer sofort und auf der Stelle Spaß machen muss, wie es der kapitalistische Leistungs- und Gefällt-Mir-Imperativ fordern. Langeweile und Frust dürfen auch mal sein. Und dann kann schon im bloßen Weitermachen, das einen mit den eigenen Grenzen und Fähigkeiten vertraut macht, der ganze Sinn der Arbeit verborgen liegen.

Irgendwann kehren sie nämlich doch alle wieder zurück von ihren Kamelritten und Sahara-Trips. Deren Leere und Weite ließ zwar viel Raum für authentische Gedanken, irgendwie aber auch für zu viele. Laut Botton weiß man dann immerhin mehr über seine Angst vor dem Tod, was man aber studieren oder arbeiten soll, das muss man jetzt in der Praxis noch mal ganz von vorne herausfinden. Hoffentlich ist es dann noch nicht zu spät, dabei Mensch und Ich zu werden.

Marie-Luise Goldmann schreibt ab sofort regelmäßig aus philosophischer Perspektive für ze.tt über Fragen der Arbeit.