Wir kennen das. Es gibt einen Täter, ein Manifest, Opfer. Diesmal heißen sie Vili, Sedat, Said Nessar, Mercedes, Kaloyan, Hamza, Gökhan, Ferhat und Fatih. Lichterketten, Mahnwachen, Kondolenzbekundungen. Angehörige weinen um die Ermordeten. Angela Merkel weint um Deutschland. Lars Eidinger beweint sich selbst. Uns stockt der Atem – kurz.

Die Druckerpressen machen weiter. Die Pressekonferenzen machen weiter. Die Talkshows machen weiter. Die Tagesordnungen machen weiter. Die Lohnarbeit macht weiter. Der Alltag macht weiter. Die Parolen machen weiter: Stadt XY bleibt bunt. Vielfalt statt Einfalt. Wir sind viele. Unteilbar. Und wieder heißt es: aufstehen, zusammenstehen, einstehen, Demokratie verteidigen!

Aber vielleicht legen wir das schildgewordene verfassungspatriotische Pathos für einen Moment beiseite und fragen: welche Demokratie?

Die Demokratie, die Entnazifizierung nicht als echte Notwendigkeit, sondern vor allem als notwendiges Übel verstand, als Bevormundung, die man alsbald hinter sich gebracht haben wollte? In Deutschland wird Vergangenheit bewältigt.

Oder die Demokratie, in der man sich nach der Wende rassistischen Exzessen hingab: Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln. Aber auch Münster, March, Solingen. Ost und West geeint im nationalistischen Taumel.

Oder die Demokratie, die bis heute die lückenlose Aufklärung der Rolle deutscher Behörden im NSU-Komplex schuldig bleibt? Die Demokratie, in der allen Beweisen zum Trotz von Suizid gesprochen wird, wenn Menschen auf Polizeistationen verbrennen?

Die rote Linie verläuft zwischen Antifaschismus und Faschismus, die Fronten sind klar. Eine Gesellschaft, die das spaltet, braucht mehr Spaltung.

Die Demokratie, die sich mit dem gerechten Zorn rechtsstaatlicher Überzeugung über brennende Fahrzeuge ereifern kann, brennende Häuser aber als (bedauernswerte) Tatsache hinnimmt. Über 10.000 Angriffe auf Schutzsuchende und ihre Unterkünfte in den vergangenen fünf Jahren. Zählt noch jemand mit?

Die Demokratie, die Artikel 16a des Grundgesetzes ausgehöhlt hat bis zur Unkenntlichkeit, die das Asylrecht Stück für Stück verkehrt in ein Abschieberecht des Staates. Asylkompromiss, Asylpakete, Geordnete-Rückkehr-Gesetz, andere Eingriffe, weitere in Planung.

Die Demokratie, die so tut, als handele es sich bei den faschistischen Elementen in ihren Institutionen um Fremdkörper, deren Existenz nun plötzlich und überraschend zutage tritt.

Mit Menschenfeinden ist kein Kompromiss zu machen

Wir kennen das. Wir kennen diese Demokratie, wir kennen sie nur allzu gut. Sie steht nicht auf dem Spiel. Was auf dem Spiel steht, sind Menschenleben, deren Würde und Existenz aus liberaler Selbstgefälligkeit zur Verhandlungsmasse gemacht wurden und werden. Dabei hat uns das politische Seelenheil von Rechten nicht zu interessieren, ebenso wenig die moralische Selbstvergewisserung Linksliberaler, die sich aus neuerlichen Scheindebatten mit Ethnonationalist*innen speist.

Nochmal: es gibt hier nichts auszuhalten. Wo man es mit Menschenfeinden zu tun hat, ist kein Kompromiss zu machen, kein Mittelweg zu finden. Es gibt hier nichts, das zur Disposition zu stellen wäre. Die rote Linie verläuft zwischen Antifaschismus und Faschismus, die Fronten sind klar. Eine Gesellschaft, die das spaltet, braucht mehr Spaltung.

Rechte Strukturen gehören mit aller Härte verfolgt und zerschlagen, der Verfassungsschutz gehört aufgelöst, die AfD verboten, die Entnazifizierung von Polizei, Bundeswehr und Behörden nachgeholt – sprich: Nazis gehören, um es mit den Worten des Autors und Satirikers Wiglaf Droste zu sagen, an dem gehindert, was sie eben tun, wenn man sie nicht hindert und "ob man sie dafür einsperrt oder sie dafür auf den Obduktionstisch gelegt werden müssen, ist mir gleich".

Was ist mit der sogenannten Mitte?

Aber in Deutschland ist man dann doch genügsamer. Wie groß war die Euphorie über den vermeintlichen Nichteinzug der AfD in die Hamburgische Bürgerschaft! Bravo, was für ein politisches Signal! Die Sache ist: wenn ein Friedrich Merz auf die Frage, ob seine Antwort auf Rechtsradikalismus die stärkere Thematisierung von Grenzkontrollen und Clankriminalität sei, bejaht, spricht er bloß in aller Klarheit aus, was schon lange politische Praxis ist: der Versuch, der AfD das Wasser abzugraben, indem ihre Politik vorweggenommen wird.

Was nützt eine Brandmauer gegen Rechts, die das Personal der AfD aus den Parlamenten hält, aber seine Inhalte passieren lässt? Das ist bestenfalls eine semipermeable Membran gegen Rechts.

Die Ermittlungen dauern an. Die Angst dauert an. Die Trauer dauert an. Die Anteilnahme hört auf. Wir kennen das. Nicht erst seit 2015. Nicht erst seit 1989, 1933 oder 1904. Wer glaubt, Geschichte wiederhole sich, irrt. Das hier ist kein Remake, sondern eine Fortsetzung. Das Franchise heißt Rassismus. Entgegen eines weit verbreiteten Volksglaubens haben Nazis kein Copyright darauf. Vollkommen zurecht wird beanstandet, dass eine rechtsradikale Partei sich dermaßen fadenscheinig von rechtsradikalem Terror zu distanzieren ersucht, nur: Was ist mit der sogenannten politischen Mitte?

Schlimm genug, dass sie genügend Hufeisen für die gesamte Zwergponypopulation Schottlands zu haben scheint. Aber distanziert sie sich nicht auch im selben Maße, auf dieselbe Weise, aus denselben Gründen von besagter Partei – um sich der Verantwortung zu entziehen? Damit befinden wir uns in einem Zustand ohne Zuständigkeiten. Damit haben wir nicht mehr als unsere Parolen. Auf einem Transparent war zu lesen: "Die AfD hat mitgeschossen". Das stimmt so nicht. Wir haben als Gesellschaft versagt. Machen wir uns nichts vor: Deutschland hat mitgeschossen.