Ich habe meinen Vater verloren, vor einem Jahr und fünf Monaten. Es war ein ziemlich heißer Sommer, das scheint mir bis heute unpassend. Sonne und Tod vertragen sich nicht.

Heute, fast eineinhalb Jahre später denke ich an das Wetter oder daran, wann ich das nächste Mal sein Mail-Postfach leeren sollte, um nicht an das wirklich Traurige zu denken: dass ich, wenn ich heirate, alleine auf den Altar zugehe oder mit meiner Mutter an der Seite. Dass auch Kleinigkeiten wehtun, weil ich das Wort "Papa" nicht so oft (und weniger fröhlich) sagen kann wie andere 24-Jährige. Dann denke ich nicht daran, dass es nicht mehr so ist wie es sein sollte. Und nie mehr so wird wie es werden sollte.

Ein Jahr, heißt es, danach würde der Schmerz nachlassen. Dann würde sich das Leben wieder normal anfühlen, dann stünde die Trauer nicht mehr im Vordergrund. Das berühmte Trauerjahr.

Das Leben hat sich ein paar Monate nach dem Tod meines Vaters allmählich normal angefühlt, vor allem weil ich mich nicht zurückziehen wollte aus Freizeit, Job und Gesellschaft. Ich habe gearbeitet, bin essen und tanzen gegangen und habe mich informiert, was in der Welt passiert. Ich wollte mich nicht verkriechen. "The show must go on", das hat mir geholfen, nicht immer trauern zu müssen.

Der Schmerz aber hat bis heute nicht nachgelassen.

Das berühmte Trauerjahr hat ausgedient

Viele Trauernde brauchen länger als ein Jahr, mit dem Tod umgehen zu können – vor allem dann, wenn es sich um einen Verlust eines besonders engen Angehörigen handelt wie den eines Kindes, eines Geschwisterkindes oder eines Elternteils in jungen Jahren.

Das meint auch Roland Kachler, Diplom-Psychologe und Experte in Trauerarbeit: "In schweren Verlusten dauert es ungefähr zwei bis drei Jahre, bis ein junger Mensch die Trauer über ein Elternteil loslassen kann."

Der Experte hat selbst einen schwerwiegenden Verlust erlebt und anschließend seine Trauerbegleitung reformiert. Er hat das Buch "Was bei Trauer gut tut" geschrieben. Er geht so weit, dass er das zeitliche Phasenmodell von Trauer durch ein Aufgabenmodell ersetzt hat. Er schlägt fünf Aufgaben vor, die ein trauender Mensch nach und nach "bearbeiten" sollte:

  1. Den Verlust realisieren (zu verstehen, dass die oder der Verstorbene wirklich nicht mehr da ist).
  2. Die Trauer fließen lassen ("damit sie abfließen kann", wie Kachler sagt).
  3. Eine innere Beziehung zu dem Verstorbenen aufbauen (beispielsweise durch einen Ort, mit dem man den Toten verbindet wie dem Himmel, dem Grab oder "der ewigen Liebe").
  4. Ungeklärtes klären (Kachler empfiehlt hier, einen Brief an die Verstorbene oder den Verstorbenen zu schreiben und darin alles anzuführen, was die trauernde Person belastet).
  5. Das eigene Leben schätzen (und Schuldgefühle wie "Ich darf leben, er/sie nicht" überwinden).

Es geht also darum, "einen inneren Dialog" mit dem Verstorbenen zu entwickeln und gleichzeitig ins Leben zurückzufinden. Wie viel Zeit dafür nötig ist, kann laut Kachler sehr individuell sein. Darum gehe es schließlich in diesem Modell.

Auch, wie man Nähe zu Verstorbenen zulässt, räumlich oder geistig muss jeder selbst entscheiden. Ob der Gang zum Grab, in einen Park oder Blick in den Himmel: In der Trauerarbeit sei Vieles möglich. Die Zahlen zeigen aber, dass sich jede*r Fünfte in Deutschland einen festen Ort zum Trauern wünscht. Das muss aber nicht zwingend der Friedhof sein.

Die Idee des Trauerjahrs lässt sich historisch erklären: Früher handelte es sich dabei um ein geschütztes Jahr, in dem bestimmte Rituale befolgt wurden wie der wöchentliche Besuch eines Gottesdienstes oder das Tragen schwarzer Kleidung. Das Trauerjahr entstand in einer Zeit, in der Kirche und Religion noch eine größere Bedeutung für viele Menschen und deren Trauerarbeit hatten. Angesichts der Tatsache, dass 2014 rund 218.000 Menschen aus der Kirche ausgetreten sind, zeigt sich, dass die Kirche eine immer geringere Rolle spielt, besonders in dem Leben von jungen Menschen. Im Jahr zuvor verzeichnete die Deutsche Bischofskonferenz mehr als 178.000 Kirchenaustritte.

Der Schmerz pocht

Ich habe mich zwei Wochen vor dem ersten Todestages meines Vaters tätowieren lassen, als Teil meiner Trauerarbeit. Ein persönliches Motiv, eine persönliche Geschichte und drei Varianten, diese zu erzählen – das hängt davon ab, wie gut ich mein Gegenüber kenne. Außerdem war ich viel unterwegs, habe viele verschiedene Länder bereist und mich ganz bewusst auf positive Gedanken gebracht. Zahme Rebellion sozusagen.

Und doch: Der Schmerz meldet sich zurück, regelmäßig und mit einer Wucht, als ob mir entweder jemand ins Gesicht schlägt oder die Kehle zudrückt. Ganz egal, ob im Alltag oder an besonderen Momenten wie Geburtstagen und Co.: Musik, Gerüche, bestimmtes Essen, ein Kleidungsstück oder eine Gewohnheit – alles erinnert an ihn, alles lässt mich vermissen. Das ist schön und traurig zugleich. Es zeigt mir, dass er immer an meiner Seite ist, aber eben nicht mehr lebend.

Anfangs ist es mir schwer gefallen, Fotos von ihm anzusehen. Ich wurde traurig, als ich mich an die Situation erinnert habe, in der das Foto entstanden ist. Inzwischen ist das besser, aber noch immer nicht einfach.

Weihnachten ist besonders ätzend: Weihnachtszeit ist Familienzeit, und die Erinnerung an früher macht mich ziemlich traurig. Während ich mich selber in den Weihnachtstrubel stürze, Glühwein trinke oder zu Mariah Carey trällere, schwingt die Trauer immer mit.

Ich kann die traurigen Gefühle steuern – je nachdem, ob ich es gerade zulassen will und kann – indem ich mich zum Beispiel auf eine bestimmte Sache konzentriere, das Radio anmache oder etwas esse. Denn ich mag noch immer an Weihnachten, dass die Stadt von konsumierenden Menschen wimmelt, ich Schokolade-überzogene Treibhaus-Erdbeeren essen kann oder das alles und überall nach Tannengrün riecht.

Das Leben muss weitergehen

Roland Kachler nennt das punktuelle Trauer, die in unserem heutigen Lebensrhythmus sehr viel häufiger vorkomme als früher. "Viele junge Menschen können sehr gut switchen zwischen ihrer Alltags- und ihrer Trauerwelt", sagt der Psychologe. Sie müssten sich auf ihre Entwicklung im Studium oder ihren beruflichen Erfolg konzentrieren und währenddessen trauern. Deshalb trauerten sie immer wieder zu gewissen Zeitpunkten anstatt fortlaufend die ganze Zeit.

"Zudem verfügen junge Trauernde über einen sehr viel größeren Zukunftshorizont als ältere Menschen", sagt Kachler. Das Leben muss weitergehen – und das ist keine Plattitüde. Auch mein Leben geht weiter.

Das kostet Überwindung, denn nichts ist wie vorher. Der Schauspieler Joachim Meyerhoff schreibt in seinem Buch "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke", dass der Tod das Leben zweiteile. So fühlt es sich wirklich an. Da ist mein Leben vor dem Tod meines Vaters und das danach. Beide Teile sind gleichermaßen lebenswert und voller schöner Dinge. Trotzdem bleibt der erste Teil erstmal der Glücklichere. Erklären kann ich das kaum.

Außer, dass nicht nur der Verlust mein Leben verändert hat, sondern auch dessen Folgen. Rituale aus der Kindheit fallen weg, Freunde wenden sich ab, gemeinsame Orte fehlen. Vieles ist anders und damit muss ich lernen umzugehen. Das dauert.

Wie soll ich mich also innerhalb eines Jahres mit allen Facetten meiner Trauer beschäftigt haben? Das kann und sollte niemand verlangen. Abhaken und weitermachen gibt es beim Trauern nicht.

Mein Vater ist nicht plötzlich gestorben, er war krank. Ein Jahr hatten wir Zeit, uns darauf vorzubereiten, dass er nicht mehr da sein wird. In dieser Zeit habe ich viel über den Tod nachgedacht. Immer wieder schossen mir Gedanken in den Kopf wie "Warum ich? Ich bin so jung" oder "Warum er? Er ist noch keine 60 Jahre alt". Am Ende gibt es auf diese Fragen keine wirklichen Antworten.

Der Psychologe Roland Kachler sagt, dass das erste halbe Jahr nach dem ersten Todestag besonders mühsam ist, weil man in diesem Zeitraum stark realisiere, dass die oder der Verstorbene fehlt. Das könne man direkt nach dem Tod des Angehörigen nur schwer bewältigen, da man sich als Trauende*r noch im Schockzustand befände.

Tatsächlich habe ich mich vor rund 17 Monaten gefühlt, als wäre ich in von Watte umgeben, und zwar einer dicken Schicht, die nur wenige Fakten und noch weniger Ratschläge durchlässt. Bevor wir Trauer also zeitlich begrenzen, sollten wir vielleicht warten, bis die Schicht Watte dünner wird – und Trauernden so viel Zeit geben, wie sie brauchen.