Sulli, 25 Jahre alt, wird am 14. Oktober 2019 von einem Manager tot in ihrer Wohnung in Seongnam aufgefunden. Die Polizei geht von Suizid aus.

Goo Hara, 28 Jahre alt, wird am 24. November 2019 tot in ihrer Wohnung in Seoul aufgefunden. Auch hier wird Suizid als Todesursache angenommen.

Cha In Ha, 27 Jahre alt, wird am 3. Dezember 2019 tot in seiner Wohnung gefunden – alles spricht für einen Suizid.

Für viele westliche Medien und Fans ist spätestens beim Tod von Cha In Ha klar: Schuld am Tod der Stars sind der Hass in den sozialen Medien, der Leistungsdruck und die Knebelverträge im K-Pop-Geschäft. Eine zu voreilige Schlußfolgerung, denn über die Umstände, die zu den Suiziden geführt haben sollen, ist nur recht wenig bekannt und die Branche längst nicht so dunkel und düster, wie ihr Ruf.

Warum soll der K-Pop überhaupt schuld sein?

Selbstverständlich gibt es Manager*innen, die ihre Idols (Anmerkung: so werden südkoreanische K-Pop-Stars genannt), in unterbezahlte und lange Verträge zwingen und ausbeuten – von solchen Abmachungen mit einer Dauer von fünf bis sieben Jahren berichtet beispielsweise Prince Mark, ein ehemaliges Mitglied der Band JJCC – doch es gibt auch viele gut bezahlte aufstrebende Künstler*innen und ist ein Star erst einmal eine große Nummer, so hat er oder sie das Management viel mehr in der Hand.

Warum soll der K-Pop überhaupt schuld sein? Stirbt ein westlicher Popstar, werden die Gründe doch auch nicht im westlichen Pop gesucht, wie Sarah Keith, Expertin für koreanische Popkultur gegenüber ze.tt zu bedenken gibt. Um sich den möglichen Gründen für die Suizide von drei jungen K-Pop-Stars annähern zu können, muss eher die koreanische Gesellschaft, die sich in vielerlei Hinsicht von der westlichen unterscheidet, betrachtet werden.

K-Pop spiegelt die Gesellschaft

Der Wunsch nach Anerkennung – verbunden mit der Bereitschaft, einen immensen Workload auf sich zu nehmen – sei tief im kulturellen Mindset von Koreaner*innen verwurzelt, wie auch die Podcast-Moderatorinnen Yoon Ha Kim und Hui Ah Park in der Folge "K-Pop" der Netflix-Serie Explained ausführen: "Geduldig und ausdauernd zu sein und endlich das zu erreichen, was man will. Das wird in Korea sehr geschätzt und respektiert." Angehende Idols durchlaufen Talentschmieden, die Konkurrenz ist immens und hat man sein Ziel erreicht, sind zwölf bis 20 Stunden Arbeit keine Seltenheit. Pro Tag! Schließlich müssen Tanztrainings, Interviews und Touren auf der ganzen Welt erledigt und nebenbei noch die Fans auf Social Media unterhalten werden.

Körperliche Folgen bleiben da nicht aus, in den sozialen Medien lassen sich

zahlreiche Videos finden, in denen zu sehen ist, wie K-Pop-Stars vor Erschöpfung auf der Bühne ohnmächtig werden. K-Pop-Expertin Sarah Keith sagt, dass solch ein Arbeitsethos nicht nur für den K-Pop gelten würde, sondern tief in der koreanischen

Tradition verankert sei: "Korea ist eine hochgradig wettbewerbsfähige Gesellschaft, insbesondere im Bereich der

Bildung. In vielen Artikeln wurde das 'Bildungsfieber' Koreas erörtert, das durch lange Tage für Studierende gekennzeichnet ist, die auch nach der Schule stundenlang lernen. Diese Haltung zeigt sich auch in der K-Pop-Ausbildung." Dennoch gibt es bei keinem der drei Stars Hinweise darauf, dass Faktoren wie Leistungsdruck oder Überarbeitung Gründe für die Suizide gewesen sein könnten.

Schönheitswahn im K-Pop-Business

Eine andere Spur für die Häufung der Suizide Ende vergangenen Jahres führte die Medien aus westlichen Ländern zum Schönheitswahn im K-Pop-Business: Das Phänomen der Schönheitsoperationen ist in Südkorea allerdings weder neu, noch ist es dem K-Pop alleine zuzuschreiben. Bei der Anzahl der Operationen im Bereich der plastischen Chirurgie belegt das Land im Bevölkerungsdurchschnitt weltweit den vierten Platz. So ist es nicht verwunderlich, dass K-Pop-Stars und deren Managements auch hier zu drastischen Mitteln greifen, ohne sich dabei aber vom Rest der koreanischen Gesellschaft zu unterscheiden.

Before und After heißen die Musikvideos der K-Pop-Girlband Six Bomb mit denen sie 2017 ihr Album bewarben. Im After-Video zeigen die Bandmitglieder ihre frisch operierten Gesichter – sie hatten sich für rund 80.000 Euro unters Messer gelegt. Freiwillig, wie das Management sagte. Was für westliche Zuschauer*innen extrem wirken mag, ist für einen großen Teil der Menschen in Südkorea völlig normal.

After-Video:

Die einfachen, die naheliegenden Erklärungsversuche haben also sehr wahrscheinlich nichts oder nicht mehr oder weniger mit den Toden von Sulli, Go Hara und Cha In Ha zu tun als bei jedem anderen in Südkorea lebenden Menschen auch.

K-Pop ist weltweit allerdings auch deshalb so erfolgreich, weil die koreanische Unterhaltungsindustrie Social Media in den allermeisten Fällen perfekt ausnutzt. Viele erfolgreiche Idols – so auch die drei mittlerweile Verstorbenen – treten auf allen erdenklichen Plattformen mit ihren Fans in direkten Kontakt. So werden die Stars extrem nahbar, aber auch leicht anfällig für ungefilterten Hass und Beleidigungen.

Tabuthema Mental Health

Das mussten auch die beiden verstorbenen Stars Sulli und Goo Hara erfahren – gehörten sie doch beide zu einer immer größer werdenden Gruppe von südkoreanischen Künstlerinnen, die für ihre Offenheit und ihre Weigerung, sich gesellschaftlichen Normen anzupassen, angefeindet werden. Sulli betrank sich einmal mit ihren Freund*innen und machte davon einen Livestream. Sie bekam den Hass der Menschen zu spüren, weil sie ohne einen BH ihre Wohnung verließ. Sie sprach über ihr Selbstbewusstsein als Frau oder über ihre psychischen Probleme aufgrund des Mobbings im Internet. Sie trotzte dem gern gesehenen Bild der sexuell begehrenswerten, unschuldigen Frau, indem sie ihre Beziehung öffentlich machte.

Yunkim Ji-yeong, eine Expertin für koreanische Geschlechterfragen an der Universität in Seoul, sagte dem Guardian dazu: "Sie äußerte ihre Ansichten darüber, was in unserer Gesellschaft falsch läuft, wie sich weibliche Stars zu verhalten haben."

Auch Goo Hara musste erst im Mai 2019 nach einem ersten Suizidversuch wiederbelebt werden –  dem war vorausgegangen, dass sie ihrem Ex-Freund vorgeworfen hatte, sie mit der Veröffentlichung eines Sex-Tapes ohne ihre Zustimmung erpressen zu wollen. Der Ex-Partner wurde zu eineinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt – Goo Hara wurde anschließend noch extremer als zuvor öffentlich geächtet und angefeindet.

Südkorea ist eins der Länder mit der höchsten Suizidrate weltweit, der Umgang mit den Problemen von Sulli und Goo Hara zeigt, wie toxisch die Gesellschaft mit den Themen Frauen und Mental Health umgeht. Denn: Beide Künstlerinnen bekamen keine Unterstützung bei ihren Problemen. Im Gegenteil: Sie wurden öffentlich dafür angefeindet, dass sie darüber sprachen.

Eine Journalistin von Bloomberg schrieb dazu auf Twitter:

"Koreanische Frauen haben es immer schwerer, als Opfer Verbrechen zu melden. Das liegt daran, dass sie sehen, dass Künstler*innen durch die Art und Weise, wie die Öffentlichkeit, die Polizei und die Justiz auf die sexuellen Übergriffe reagieren, ein noch größeres Trauma erleben. Und das sendet eine klare Botschaft an alle Frauen in Korea."

Die gesamte Gesellschaft muss zur Verantwortung gezogen werden

Das Business ist demnach nur zu Teilen mitverantwortlich für die Häufung der Suizide im K-Pop. Vielmehr muss die gesamte koreanische Gesellschaft zur Verantwortung gezogen werden. Eine Gesellschaft, in der psychische Gesundheit zu großen Teilen ein Tabuthema ist und in der Frauen- und LGBTQIA-Feindlichkeit auf der Tagesordnung stehen, fördert solche Entwicklungen.

Das bestätigt auch Dal Young Jin, der Co-Autor von K-Pop Idols: Popular Culture and the Emergence of the Korean Music Industry. Er sagte der Deutschen Welle zum Tod von Cha In Ha, dass dieser Teil eines breit angelegten Musters innerhalb der koreanischen Unterhaltungsindustrie sei, in der die K-Pop-Szene die anspruchsvollste sei. Demnach hätten die einzelnen Figuren des K-Pops zwar unterschiedliche Sorgen, doch sie alle stünden vor den gleichen soziokulturellen Herausforderungen, die Depressionen hervorriefen, was wiederum eine mögliche Ursache für einen Suizid sein könnte.

Fest steht: Popkultur per se ist nicht das menschenfreundlichste Umfeld, kommt die Popkultur allerdings aus Südkorea, haben es die Künstler*innen aufgrund von soziokulturellen Faktoren noch schwieriger. Das "System K-Pop" aber als Alleinverantwortlichen hinzustellen, ist der zu einfache Weg. K-Pop-Expertin Sarah Keith bestätigt gegenüber ze.tt, dass die Politik in Südkorea die Problematik inzwischen erkannt habe und LGBTQIA- und Frauenrechte öffentlich diskutiert würden. Auch die Forderungen nach staatlichen Maßnahmen gegen Mobbing im Internet haben sich seit den Suiziden nachweislich verstärkt.

Das alles sind die ersten kleinen Schritte hin zu einer Gesellschaft, die ihre Künstler*innen nicht nur sieht, sondern auch hört.

Hilfe holen

Falls du unter Depressionen leidest und dich Suizidgedanken plagen, findest du bei der Telefonseelsorge online oder telefonisch unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 und 0800-1110222 rund um die Uhr Hilfe. Du kannst dich dort anonym und vertraulich beraten lassen.

Angehörige, die eine nahestehende Person durch Suizid verloren haben, können sich an den AGUS-Verein wenden. Der Verein bietet Beratung und Informationen an und organisiert bundesweite Selbsthilfegruppen.