Alihassan Sarfaraz sitzt am Mittwochmittag, drei Tage nachdem "sein" Video auf Twitter landete, im Wartebereich des Chemnitzer Polizeipräsidiums auf einem knarzenden Holzstuhl und hat den Kopf auf die Hände gestützt. Der 22-Jährige trägt eine kurze Jeans und ein schwarz-weiß geringeltes Oberteil, die Sonnenbrille steckt am Kragen. Aziz, wie seine Freund*innen ihn nennen, ist angespannt. Er hat seine Papiere abgegeben und wartet, bis ihn jemand abholt.

Ein Video der Antifa-Gruppe Zeckenbiss aus Chemnitz schafft es am Sonntag deutschlandweit in die Nachrichten: Darin ist zu sehen, wie ein Neonazi einen Menschen über die Straße jagt. Dieser Mensch ist Aziz. Medien werden später über Hetzjagden in Chemnitz schreiben, auch ze.tt berichtete. Das Video läuft unter anderem in der Tagesschau, es wird auf Twitter über 300.000 Mal aufgerufen.

Jetzt ist das Video Ermittlungsgegenstand der Polizei. Aziz, der sich darin gezwungen sieht, vor einem gewaltbereiten Neonazi davonzulaufen, will Anzeige erstatten.

Ein Neonazi schlägt mit einer Flasche auf ihn ein, ein anderer geht auf ihn los

Aziz' Geschichte macht fassungslos: Er ist am Sonntagnachmittag mit Freund*innen in der Innenstadt von Chemnitz unterwegs. Zu diesem Zeitpunkt weiß er noch nicht, was hier schon sehr bald los sein wird. Gerüchte machen die Runde: Hunderte Faschist*innen seien unterwegs. Und sie seien aggressiv.

Aziz läuft auf dem Gehsteig Richtung Stadtzentrum, er möchte dort Bekannte treffen, als er plötzlich aus der Ferne Schreie hört. Als diese Schreie näher kommen, dreht Aziz sich um und zückt intuitiv sein Smartphone. Eine Gruppe Männer läuft hastig auf ihn und seine Freund*innen zu. Aziz filmt sie. Die Schreie werden lauter, die Männer schneller.

Ein Mann im blauen Shirt hält eine Bierflasche umgedreht in der Hand, schlägt in Richtung Aziz, erwischt sein Smartphone. Ein Tumult bricht los. Eine Freundin von Aziz möchte den Mann zur Rede stellen. Ein anderer Mann, schwarz gekleidet, mischt sich ein, schlägt ihr drei Mal mit der Faust ins Gesicht. Sie wird später ins Krankenhaus eingeliefert. Das alles dauert nicht einmal eine Minute.

Kurz darauf folgt die Szene, die im Video zu sehen ist: Der Mann in Schwarz geht auf Aziz los, tritt nach ihm. Er rennt davon, über die mehrspurige befahrene Straße, bis der Mann von ihm ablässt. Der Mann in Blau ist am Anfang des Videos ebenfalls kurz zu sehen.

Diese Geschehnisse schildert Aziz so dem Polizeibeamten, der am Mittwoch seine Anzeige aufnimmt. Rashed, ein guter Freund, übersetzt für ihn. Aziz kann noch nicht so gut Deutsch.

Aziz flüchtete 2017 aus Afghanistan nach Deutschland

Aziz kam vor einem Jahr nach Deutschland, besucht derzeit noch täglich vier Stunden die Sprachschule. Im Juli 2017 musste er aus seiner Heimat Mazar-e-Sharif in Afghanistan flüchten.

In Deutschland möchte er die Möglichkeiten bekommen, die ihm in seinem Heimatland verwehrt bleiben: ein ruhiges Leben leben, ohne Krieg, ohne Probleme, ohne Hass. "Davor bin ich ja geflüchtet", sagt er. Am Sonntag habe sich aber dieses vertraute Gefühl der Angst in ihm ausgebreitet, das er eigentlich in Afghanistan lassen wollte.

Sein Freund Rashed ist seit Januar in Deutschland, auch er flüchtete aus Afghanistan. Dort arbeitete er zwei Jahre lang als Polizeibeamter. Er bewegte Aziz mit dazu, Anzeige zu erstatten, nachdem er das Video von Bekannten geschickt bekam und sich erkannte – weil das die Möglichkeiten erhöhe, dass sie Erfolg haben wird.

Die Blicke ist Aziz mittlerweile gewohnt

Auf ihr Gefühl nach den Vorfällen vom Sonntag und Montag angesprochen, seufzen Aziz und Rashed auf. "Wir sind es gewohnt, hier seltsam angeschaut zu werden", sagt Rashed. Aziz nickt.

Es gibt einfach zu viele Faschisten hier" - Aziz

Aziz mag Chemnitz, sehr sogar, sagt er. Er habe viele Freund*innen hier gefunden. "Aber mich stört die hohe Kriminalität, auch die von Geflüchteten. Und es gibt einfach zu viele Faschisten hier", sagt er und blickt auf den PVC-Boden im Polizeirevier. Er wartet gerade auf seine Arbeitserlaubnis und hofft, sie kommt bald an. Ob er die Stadt irgendwann verlassen will, weiß er noch nicht. Er hat hier schon einen Job sicher, bei einem Logistikunternehmen.

Nach dem Gespräch mit dem Polizeibeamten ist Aziz erleichtert. Er lächelt, sagt, er habe sich sehr gut bei ihm aufgehoben gefühlt. Der Beamte habe ihm zugesichert, dass dem Fall ernsthaft nachgegangen werde.

Jetzt heißt es für Aziz: warten, ob das auch wirklich passiert.Debug