Ich lese mir den Flyer in meiner Hand mehrfach durch: "Barfuß bis zum Hals!", steht da in großen Lettern. Ich frage mich: Was motiviert Menschen, nackt herumzulaufen? Nackt zu kochen? Nackt Sport zu betreiben? Will ich das wirklich? Doch jetzt gibt es kein Zurück mehr: Ich bin auf dem Weg in eines der größten österreichischen FKK-Feriendörfer.

Erst als ich auf dem Balkon stehe und nach unten blicke, verstehe ich, was das wirklich bedeutet: ein nackter Mann auf einem Fahrrad fährt vorbei. Eine ebenfalls nackte Frau in einem Schrebergarten werkelt mit einer Gartenschere herum. Um den Campingplatz für Freikörperkultur (FFK) erstrecken sich wilde Wiesen und kleine Seen. Im österreichischen Bundesland Kärnten nahe an der slowenischen Grenze im Hotel und Feriendorf Rutar Lido erinnern Plastikblumen und Spitzendeckchen an vergangene Tage.

Seen, Speck und Jörg Haider

Das südlichste Bundesland Österreichs ist berühmt für seine idyllischen Seen, seinen Speck und Most, seinen Gesang und auch für den Rechtspopulisten Jörg Haider. Er war jahrelang Vorsitzender der Landesregierung von Kärnten, führte auch die rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreich (FPÖ) sowie später das von ihm neu gegründeten Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) an, bis er 2008 bei einem Autounfall verstarb. Ausgerechnet in diesem Bundesland bin ich nun angekommen, um mit Menschen zu leben, die Freiheit so weit definieren, dass auch ihre Körper frei oder besser gesagt nackt sein müssen.

Laut Duden.de haben Naturismus und Nudismus eine ähnliche Bedeutung: "Lebensanschauung, nach der die gemeinsame [sportliche] Betätigung beider Geschlechter im Freien ohne Bekleidung der physischen und psychischen Gesundung des Menschen dient; auch Freikörperkultur." All die Bilder zu FKK in meinem Kopf von nackten Menschen beim Kochen und Sport habe ich aus VICE-Artikel und Fernsehbeiträgen. Und auch so einige Vorurteile: wie zum Beispiel, dass FKK etwas Schmuddeliges ist oder automatisch in einer Verbindung mit Sex oder Swingen steht.

FKK-Zentrum Kärnten

Der Eigentümer des Rutar Lido, Peter Rutar, sitzt in einem Golfcar neben mir und fetzt über die Wiesen des Platzes. "Kärnten ist österreichweit ein FKK-Zentrum", erklärt er mir. Wir fahren an kleinen Seen entlang, durch schmale Wege zwischen Wohnwägen. Immer wieder muss er stehen bleiben, weil  jemand etwas von ihm will.

Der Name des Camps existiere bereits seit über 50 Jahren, damals sei es noch so etwas wie ein Familienbad gewesen, wo es eben üblich war, nackt zu baden. Rutar selbst absolvierte zu Beginn der 1980er Jahre im Restaurant des Campingplatzes seinen ersten Ferienjob. "Am Anfang war es schon ein bisschen komisch, dass alle nackt waren", erklärt er und lacht. Peter Rutar ist aber im Feriendorf geblieben und mauserte sich, wie er es selbst beschreibt, "vom Tellerwäscher zum Eigentümer ganz ohne Amerika". Mittlerweile umfasst das Rutar Lido Feriendorf ein Hotel, einen Campingplatz sowie Stellplätze für Dauercamper*innen, mehrere Schwimmbecken, Teiche und einen Wellnessbereich – alles ausdrücklich FKK-Bereich.

FKK: Keine Nudist*innen, sondern selbsternannte Naturist*innen

Auf die Frage, warum alle auf dem Gelände nackt sein müssen, antwortet er harsch: "Weil es unsere Regel ist", und erklärt, dass die Naturist*innen im Feriendorf sich durch Menschen mit Badebekleidung unwohl fühlen würden und es auch Gaffer*innen anziehen würde. So sind eben alle nackt. Außer er, denn das Personal trägt am Gelände Kleidung. Rutar betont, dass es nicht nur um das Nacktsein an sich, sondern um die Verbundenheit mit der Natur und Freiheit gehe. Darum nennen sie sich hier auch Naturist*innen und nicht Nudist*innen. Und das bringe laut Rutar so einiges mit sich: Naturist*innen seien die zufriedeneren Menschen und hätten auch ein stärkeres Immunsystem.

Ganz so streng scheinen die Regeln für das Nacktsein dann aber doch nicht zu sein: Für Kinder und Teenager*innen gilt das Textilverbot nicht, genauso für Personen während ihrer Periode oder für alle, wenn das Wetter mal schlecht ist. So wie an diesem Tag. Es nieselt mittlerweile leicht. Aber beim Schwimmen muss die Badebekleidung ausgezogen werden. Kompromisslos. "Das nackte Schwimmen ist für uns ganz wichtig", erklärt Peter Rutar. Dann fügt er noch hinzu: "Aber je mehr sich die Menschen hier nackt bewegen, umso lieber ist es uns." Hier im Feriendorf dürfe man sogar auf der Terrasse nackt essen.

Österreich ist FKK-Weltmeister

Keine andere Nation ist lieber nackt am Strand als Österreich. Herausgefunden will das zumindest ein Online-Reisebüro mit einer Umfrage in 24 Ländern haben. 2016 stieß Österreich Deutschland von der Spitze: Für 76 Prozent der Österreicher*innen sind Strandbesucher*innen, die sich entweder nackt oder oben ohne sonnen, völlig in Ordnung. Deutschland belegt mit 72 Prozent den zweiten Platz. Die Italiener*innen hingegen fühlen sich zu 71 Prozent mit nackten Strandnachbar*innen eher unwohl. Bei der Umfrage 2017 wurde Österreich laut Angaben des Online-Reisebüros nicht befragt und Spanien belegte den ersten und Deutschland den zweiten Platz.

Zu Besuch in der Klapsmühle: Monika und Paul

Peter Rutar bremst das Golfcar. Wir stehen auf einem kleinen Weg zwischen zwei Reihen von Wohnmobilen und kleinen Häusern. Wegen des vergangenen Wolkenbruchs ist das Gras nass und ein leichter Wind sorgt für kühle Temperaturen an diesem Tag im Juli. Monika und Paul stehen in einem Garten, auf dem Hauseingang steht "Klapsmühle". Sie grüßen und laden uns ein, reinzukommen. "Das erste Mal ausziehen, ist das schwierigste", erzählt Monika. Sie selbst trägt eine Badehose und ein T-Shirt. Untypisch für sie, wie sie sagt, aber heute ist es ihr zu kalt. "Du denkst, alle schauen dich an, in Wahrheit schaut dich gar niemand an. Außer du trägst einen Bikini, dann schauen alle auf dich", fährt sie fort und beginnt tief und laut zu lachen.

Dann steckt sich die 69-Jährige eine Zigarette aus einem schwarzen Päckchen an und inhaliert den Rauch. Wenn Monika erzählt, dann spricht sie von einem Wir, auch wenn es das nicht mehr gibt. Im vergangenen Jahr verstarb ihr Mann. Beide waren in ihrer Rente Dauercamper*innen in Kroatien, bis die Hitze für ihren Mann nicht mehr erträglich war und sie nach Kärnten in das Naturist*innen-Dorf zogen.

Hast du dich einmal ausgezogen, willst du dich nicht mehr anziehen." – Paul

Monika lebt das ganze Jahr über hier. Sie besucht ihren Nachbarn Paul gerne auf einen Kaffee. Hier sei man mehr Familie als nur Nachbarschaft. Monika und Paul sind seit Jahrzehnten überzeugte FKK-Anhänger*innen. Auf den Geschmack kamen beide in Kroatien beim Baden an FKK-Stränden. "Hast du dich einmal ausgezogen, willst du dich nicht mehr anziehen", erklärt Paul, 59, der als Lehrer arbeitet. Allein der Gedanke an nasse Badekleidung, würde ihm schon die Haare aufstellen. Nein, sie können sich nicht mehr vorstellen wieder sogenannte Textiler*innen zu werden. Dieses Wort höre ich in Interviews im Naturist*innen-Dorf immer wieder. Als Textiler*innen werden die Menschen bezeichnet, die in Badebekleidung schwimmen gehen und es kommt mir vor, als würde man den Ausdruck hier fast wie ein Schimpfwort verwendet.

Das Fernsehen war im Naturist*innen-Dorf

Dieser Montag ist ein großer Tag für die selbsternannten Naturist*innen. Denn in der vergangenen Woche war das Fernsehen zu Besuch und nun wird der Beitrag gemeinsam auf einer großen Leinwand im Sommerrestaurant neben dem Pool geschaut. Der Beitrag thematisiert unter anderem das Nachwuchsproblem der Nudist*innen. Ein Paar, das mit Cola und Mineralwasser im Speisesaal sitzt und gebannt auf die Wand blickt, verkörpert das Gegenbeispiel zur These des Beitrags. Marie* ist 30 und Thomas* ist 35. Sie kommen bereits das dritte Jahr in Folge zu den Naturist*innen. Eine Woche sind sie dann nackt, spielen Federball, sonnen sich und gehen schwimmen. "Seit ich 15 bin und davon gehört hab, wollt ich das machen", erzählt Thomas. Doch seine Exfreundin wollte dabei nicht mitmachen. Vor dreieinhalb Jahren lernte er Marie kennen und sie seien sich gleich einig gewesen. Zuerst an einem verlassenen See, dann in der Therme und nun im Feriendorf: nackt und frei sein.

"Wir waren schon nach dem ersten Besuch hier begeistert", erzählt Thomas. Nach wenigen Tagen kannte sie jede*r. Alle seien offener als an anderen Urlaubsorten, wo sie bisher waren. Wie liebevoll und respektvoll die älteren Paare miteinander umgehen, beeindruckt Marie: "Die haben sich auch alle noch was zu sagen, das gefällt mir."

Uns bringt das gemeinsame Nacktsein noch einen Schritt enger zusammen." –Thomas

Thomas geht sogar noch weiter: "Uns bringt das gemeinsame Nacktsein noch einen Schritt enger zusammen." Also empfehlen sie den FKK-Urlaub ihren Freund*innen und Familie? "Nein!", platzt es Marie raus. "Das ist unser Geheimnis, niemand weiß etwas davon." Ihre Familien seien beide prüde, ihre Freund*innen würden sie auslachen. Im vergangenen Jahr sind die beiden sogar zu einem nahegelegenen See gefahren, um Pärchenfotos zu machen, die sie später als Alibi ihren Freund*innen zeigen können. Natürlich mit Klamotten.

Das ist unser Geheimnis, niemand weiß etwas davon." – Marie

Am meisten stört die beiden, dass niemand die Freikörperkultur ernst nehme. "Auch bei so einem Beitrag wie heute im Fernsehen, alle lachen immer nur", so Thomas.

Wie fühlt sich Freikörperkultur an?

Nach all den Gesprächen will ich selbst wissen, wie sich Freikörperkultur am eigenen Körper anfühlt. Ich stehe nur mit einem Handtuch bekleidet zwischen der Sauna und dem beheizten Outdoor-Pool. Wegen des kühlen Wetters sind viele Menschen hier. Schwimmen, tratschen, rauchen. Ich zögere, mache lieber noch ein paar Fotos und Notizen, dann hab ich keine Ausflüchte mehr parat. Ich lasse das Handtuch langsam vom Körper gleiten und hänge es an einen Haken und geh erst mal in die Sauna. Gewohntes Terrain, dort war ich schon mal nackt. Die anderen Urlauber*innen neben mir diskutieren gerade über Saunakultur und wie prüde andere Länder sind. Ich lege mich auf mein zweites Handtuch, versuche mich zu entspannen und hoffe, dass mich niemand anspricht, sonst müsste ich zugeben, dass ich vermutlich auch etwas prüde bin.

Nach der Sauna und einer Dusche springe ich in den Pool. Das kühle Wasser prickelt an meinem ganzen Körper. Eine Aussage verstehe ich nun: Wer einmal nackt schwimmt, will sich nicht mehr anziehen. Nacktes Schwimmen hat tatsächlich etwas befreiendes, ja rudimentär Ursprüngliches an sich. Auch wenn ich es mir vielleicht selbst einrede, fühle ich mich direkt ein Stück freier.

Am Weg zum Hotel will ich die Nudistin in mir testen und verstecke mich nicht mehr unter meinem Handtuch, sondern trage es so lässig wie irgendwie möglich, wenn man gerade splitterfasernackt ist, über die Schulter geschwungen. Ich ziehe meinen Bauch ein, mache meinen Rücken gerade und versuche so zu tun, als würde ich ständig nackt herumlaufen. Ein sehr fülliger Mann mäht neben dem Weg gerade seinen Rasen und nickt mir kurz zur Begrüßung zu. Eine alte Dame mit braun gebrannter Haut wie aus Leder spielt mit ihrem Enkel Federball. Ich verstehe: Niemand schaut mich an. Oder besser gesagt:  Niemand schaut auf meinen nackten Körper.

Plötzlich wird mir klar, dass mein Bauch, meine Dellen am Po und die Kilo, die ich sicherlich mit Sport abnehmen könnte, allen hier total egal sind. Warum also mir nicht? Vielleicht führt kollektives Nacktsein dazu, dass man seinen Körper nicht direkt mehr liebt, aber dass es einem einfach ein Stück weit mehr egal wird. Denn kein nackter Körper sieht beim Essen, Rasenmähen, Radfahren oder Sträucherschneiden besonders ästhetisch aus. Muss er auch nicht, denn ein Körper ist einfach nur ein Körper. Das scheinen die Menschen hier in diesem Niemandsland irgendwo in Kärnten realisiert zu haben und mir gefällt der Gedanke. Im Grunde betreiben Naturist*innen die radikalste Form von Selbstakzeptanz und Body Positivity.

Mein Körper muss sich hingegen erst mal an diesen Lebensstil gewöhnen. In den darauffolgenden Tagen bekomme ich gleich mal eine Erkältung.