Messi-Wohnung

Ich blicke auf Berge alten Papiers, Türme dreckiger Wäsche, Bastionen leerer Plastik- und Glasflaschen und zentimeterdicke Staubschichten. Ich wundere mich, wie Mutter und Sohn, die hier gemeinsam wohnen, in diesem Chaos zurechtkommen. Ich stehe mitten in einer Messi-Wohnung im Prenzlauer Berg in Berlin. Ohne RTL2, ohne rettenden TV-Bildschirm zwischen mir und dem Müll.

Zwischen all den Wohnungen, die ich an einem Tag als Heizungsableserin betrete, findet sich immer wieder etwas, das heraussticht. Das kann, muss aber nicht unbedingt positiv sein. So wie heute.

Mutter und Sohn erfüllen jedes Klischee, das man im ersten Moment mit Protagonisten sämtlicher Trash-TV Sendungen in Verbindung bringen würde: Jogginghose, fettiges Haar, dürftige Ausdrucksweise. Die Kameras fehlen, alles hier ist echt. Ich bin froh über die blauen Plastik-Überzieher meiner Schuhe, die bei jedem Schritt auf dem klebrigen PVC-Boden haften bleiben.

Obwohl die beiden mir Leid tun, ekel ich mich: Ich knöpfe meine Jacke fest zu, atme flach und versuche, mit möglichst wenig Gegenständen in Berührung zu kommen. Ich bin mäßig erfolgreich. Gerade, als ich mich zu einer der Heizungen durchgekämpft habe, um den Zahlenwert der Anzeige zu notieren, merke ich, wie ein Vogel geradewegs auf mich zu fliegt und kurz vor meinem Gesicht abdreht, um ein paar Runden über meinem Kopf zu kreisen. Spätestens jetzt ist klar: Ich muss hier raus. Auf die anderen Heizkörper verzichte ich dankend und notiere: nicht ablesbar.

Kontrollbesuch

Draußen nehme ich mir ein paar Minuten, um mich zu akklimatisieren und große Mengen sauberer Luft zu inhalieren. Ich erhalte einen Anruf: die Firma, für die ich arbeite, schickt jemanden vorbei, der mir "mal über die Schultern gucken soll". Ein Kontroll-Besuch.

Mein Kollege und Kontrolleur ist ein robuster Typ Ende fünfzig, mit Blaumann und schweren Schuhen ausgestattet und in einem typischen Handwerkerauto mit Firmenaufdruck unterwegs. Er ist aus Potsdam und spricht feinste Brandenburger Mundart.

Zusammen gehen wir in den Hausflur und klingeln – sehr wichtig – zuerst an der Tür links von uns. Ich erinnere mich: die Linksgeh-Ordnung. Drinnen scheine ich meine Arbeit zu seiner Zufriedenheit zu erledigen: Er stellt mir simple Fragen zu den Anzeigen auf den Wasseruhren und ich antworte in bester Schülerinnenmanier. Er ist zufrieden: "Ne, bei dir is dit schon in Ordnung so, kann ick nich meckern. Aber ick war eben noch bei dem Abraham oder wie der hieß, ick sag' dir: Katastrophe."

Ich muss ein Lachen unterdrücken, nicht, weil ich mich so sehr über das Lob freuen würde, sondern, weil ich weiß, wer der Kollege ist, der neben mir auch noch in Prenzlauer Berg unterwegs ist. Er heißt Mohammad, nicht Abraham. Wenigstens ist mein Kontrolleur mit seiner Namensverwechslung innerhalb der monotheistischen Religionen geblieben.

"Da wo Bücher sind, kann man sich niederlassen"

Mein Kollege ist gegangen, ich bin wieder alleine und schaue auf ein schlichtes, messingfarbenes Klingelschild. Auf meiner Liste steht "Professor". Ich klingle. Es dauert einige Sekunden, bis sich die Tür langsam öffnet. Vor mir steht ein Mann, der etwa so groß ist, wie ich. Weißes Haar, der Oberkörper vornübergebeugt, knochige, große Hände, die noch erstaunlich kräftig wirken, gemütlich gekleidet in Hemd, Cordhose und Strickjacke. An den Füßen braune Schlappen.

Ich gehe hinein und befinde mich plötzlich inmitten der schönsten Privatbibliothek, die ich jemals gesehen habe. Die ganze Wohnung ist ein einziges, gut sortiertes Bücherregal, es findet sich kaum ein Zentimeter Wand, der nicht von Buchrücken geschmückt wird. Ehrfürchtig laufe ich durch die Wohnung und versinke mit jedem Schritt in weichem, weißen Teppichboden. Die wenigen Möbel, die nicht dazu dienen, Bücher aufzubewahren, sind aus schwerem, dunklem Massivholz.

Einige der Autoren, deren Namen mich überall umgeben, sagen mir etwas. Gelesen habe ich von all den Büchern aber kaum eins. Weil ich weiß, dass der Mann, der hier wohnt, Professor ist, tippe ich auf das naheliegendste Fach: Germanistik. Was ich mich nicht traue, ist nachzufragen.

Kurz bevor ich wieder hinaus will, verabschiede ich mich und erwähne doch noch, wie schön ich alles finde. Er sagt: "Ja, da wo Bücher sind, kann man sich niederlassen." Wir kommen ins Gespräch, er erwähnt Rumi und Hafez und die wunderbare Literatur des alten Persiens, von der ich bis auf ein paar Fetzen hier und da nicht viel verstehe. Irgendwann verrät der Mann mir übrigens, dass er emeritierter Mathematikprofessor an einer Berliner Universität ist. Nichts Germanistik: Schublade auf, Professor wieder raus.