Netflix schuldet ihn uns noch, den großen Filmwurf, der die Erwartungen weit übertrifft. Wenn schon kein Konsensmeisterwerk, dann doch wenigstens ein Genre-Glanzstück, das die Glasglocke der Mittelmäßigkeit durchbricht. Nur die halbe Geschichte ist wieder nicht dieser Film. Wie so viele andere hat er genug gute Zutaten und klingt auf dem Papier vielversprechend, aber die Macher*innen scheitern wie viele vor ihnen an entscheidenden Details.

Nur die halbe Geschichte steckt voller Klischees

Ja, es ist alles schrecklich kompliziert. Nerdgirl Ellie Chu (Leah Lewis) steckt mit ihrem Vater im US-Kaff Squahamish fest. Im Idealfall ist sie unsichtbar, tritt nur in Erscheinung, wenn sie für ihre Highschool-Mitschüler*innen Aufsätze gegen Bezahlung verfasst. Ist sie dann mal sichtbar, wird sie wegen ihrer chinesischen Wurzeln diskriminiert.

Ihr Schwarm, die von vielen begehrte Aster Flores (Alexxis Lemire) scheint unerreichbar, ist sie doch an den reichen und beliebtesten Typen der Schule vergeben. Das hält aber jemand anderen nicht ab: Der etwas einfach gestrickte Footballer Paul Munsky (Daniel Diemer) hat es auch auf Aster abgesehen, und ausgerechnet Ellie soll ihm helfen, sie für sich zu gewinnen.

Wo sie doch so tolle Aufsätze schreiben kann, soll sie für Paul einen herzzerreißenden Liebesbrief an Aster verfassen, natürlich in Pauls Namen. Er zahlt gut und Ellie braucht die Kohle, also willigt sie ein. Schließlich ist das wohl auch der einzige Weg, auf dem sie Aster zumindest irgendwie nahekommen könnte.

Anfangs funktioniert das auch wunderbar. Aster scheint mehr als das hübsche Dummchen zu sein, das viele in ihr sehen wollen. Ellie findet für die aufkeimende Brieffreundschaft immer mehr gemeinsame Themen, von Wim Wenders über Literatur bis hin zu Philosophie. Nur vergisst sie darüber bald, dass sie ihren Stil eigentlich wesentlich herunterdummen sollte, um Paul nicht irgendwann bloßzustellen.

Denn der drängt ungeduldig auf ein Treffen mit Aster, das dann auch gehörig schiefgeht. Lag alles nur an der Nervosität, klar, und so wird die Freundschaft bald auf dem Smartphonemessenger fortgeführt, während Ellie Aster und Aster Paul (also eigentlich Ellie) immer mehr verfällt – und natürlich muss das Ganze auf absurden Wegen im Chaos enden.

Tolle Idee scheitert an verpassten Chancen

Die von der 50-jährigen Alice Wu geschriebene, produzierte und inszenierte LGBTQIA-Variante des altbekannten französischen Dramas Cyrano de Bergerac ist so, wie wir sie hier zu sehen bekommen, leider nur schwer auszuhalten, weil sie voller Klischees und altbackener Stereotype steckt. Wus Ellie ist das Abziehbild einer asiatischen Außenseiter-Musterschülerin, Aster die makellose Prinzessin im Elfenbeinturm und Paul so schlicht gestrickt gezeichnet, dass es verwunderlich ist, dass er sich beim täglichen Schuhebinden nicht selbst mit den Schnürsenkeln erdrosselt.

Klar, wir wissen, worauf es beim Coming-of-Age-Prinzip hinauslaufen wird: Alle sollen über sich hinauswachsen, ihre wahre Herzlichkeit im Inneren entdecken, an- und miteinander Erfahrungen sammeln. Die Schöne ist nie nur schön, der Einfache nie nur einfach, die Brillenschlange nie nur schlau und so weiter. Aber im Jahr 2020 noch mit so überholten und schlicht albernen Darstellungen um die Ecke zu kommen, ist eine Selbstsabotage der Autorin, bremst sie ihre interessante Idee doch damit völlig aus.

Dabei ist etwa Pauls Figur noch leichter zu schlucken als der nonstop von Groupies umgebene Selbstdarsteller-Boyfriend von Aster, Trig (Wolfgang Novogratz). So überzogen dämlich wie Wu hier gerade die männlichen Protagonisten zeichnet, wird man an schlechte Teeniekomödien der 1990er zurückerinnert. Aber Football-Dumpfbacke, asiatisches Superbrain und christliche Fanatiker*innenfamilien sind hier nicht lustig, sondern genauso oll und abgedroschen wie die zwischen den Akten eingeblendeten Zitate großer Philosoph*innen und anderer Persönlichkeiten.

Im Englischen gibt es dafür das schöne Wort "pretentious", das sich nur schwer übersetzen lässt, am ehesten wohl mit "selbstgefällig": Wer nicht gerade wirklich im sehr frühen Teenageralter steckt und zumindest schon ein paar gute Coming-of-Age-Filme gesehen hat, wird hier nichts Neues erfahren. Stattdessen müssen Zuseher*innen ertragen, dass ihnen Banalitäten als große Philosophie präsentiert werden. Das Sendungsbewusstsein dahinter kann man gutheißen, aber wenn wir zurückdenken an die Filme, sie uns am meisten lehrten, reifen ließen und Mut machten, waren es wohl selten jene, die genau mit diesem Ziel im Hinterkopf konstruiert wurden.

Das Ensemble verhindert noch Schlimmeres

Was Wus Film vor der Vollkatastrophe rettet, ist das tolle Ensemble talentierter Jungschauspieler*innen. Leah Lewis' Darstellung ist zu verdanken, dass Ellie nicht ganz zum Abziehbild verkommt, und Daniel Diemer gibt gerade zum Ende hin sein Bestes, Pauls demonstratives Amöbengehirn etwas zu kaschieren. Die ganzen verschenkten Möglichkeiten lassen eine*n letztlich dann aber doch die Haare raufen.

Denn ohne zu viel verraten zu wollen: An entscheidenden Stellen des Finales hätte Nur die halbe Geschichte mutige Statements zu Gleichberechtigung und LGBTQIA-Themen präsentieren können, versinkt aber auch hier im selbstgeschaffenen Sumpf aus Banalität. Alice Wu hätte, wie ihre Filmheldin selbst Kind asiatischer Migrant*innen und offen homosexuell, so viel mehr herausholen können. Zumindest wäre das der entscheidende Schritt weg vom Netflix-Fließbandprodukt gewesen. Schade, dass er fehlt.