Graue Plattenbauten, triste Straßen und viel Beton – das sind wohl die häufigsten Assoziationen mit der kommunistischen Bauweise. Wer in den ältesten Teil Nowa Hutas kommt, wird erst einmal überrascht. Denn hier ist es vor allem grün. Auch die breit angelegten Straßen Nowa Hutas wirken freundlich, nahezu einladend. Herzstück ist der Zentralplatz (Plac Centralny), der an den Piazza del Popolo in Rom erinnern soll. Elemente der Renaissance, des Barock, des Klassizismus und der Moderne sollten den Gebäudekomplexen im Stil des sozialistischen Realismus den letzten Schliff verpassen. So wurde Nowa Huta als die perfekte Stadt geplant – ein Prestigeobjekt. Nur die Fassaden, die sind wirklich grau.

Die Stadt wurde 1949 als Wohnort für die Arbeiter*innen der anliegenden Lenin-Stahlwerke errichtet. Zwei Jahre nach der Gründung wurde Nowa Huta jedoch in Krakau eingegliedert. Heute verbinden mehrere Straßenbahnlinien die Innenstadt und das Arbeitsviertel – rund 20 Minuten dauert die Fahrt von dem Stadtkern in ein Relikt eines untergegangen Systems. In Nowa Huta geht es ruhiger zu, Reisegruppen sind kaum zu finden, die Bardichte ist im Vergleich zur Innenstadt deutlich geringer und die Bevölkerung im Schnitt älter. Rund 220.000 Menschen leben aktuell hier.

"Wir sind stolz sagen zu können, dass wir aus Nowa Huta sind."

Doch was für einen Beweggrund gibt es für junge Menschen, heutzutage freiwillig in dem Viertel zu leben? Klar, die günstigeren Mieten sind natürlich reizvoll. Für Joanna (25) ist es mehr als das. Sie ist in der Planstadt groß geworden und lebt auch heute noch hier – und das, obwohl sie in der Innenstadt Krakaus arbeitet.

Wegziehen kommt für sie nicht in Frage: "Es ist vor allem das Gemeinschaftsgefühl, das mir in Nowa Huta gefällt. Hier kennt man seine Nachbarn, man lebt nicht anonym nebeneinander her, sondern hilft sich gegenseitig."

Und das ist auch so gewollt: Nowa Huta ist in Wohnblocks angelegt, die jeweils Platz für 2.000 bis 5.000 Menschen bieten. Jeder Wohnblock ist quasi eine kleine Stadt in der Stadt. Ärzt*innen, Kindergärten und Schulen sollten immer in gleicher Entfernung sein, so die sozialistische Ideologie. Daraus hat sich eine gute Infrastruktur entwickelt. Manche Anwohner*innen verlassen selten ihren Wohnblock – denn alles Notwendige ist in unmittelbarer Nähe zu erreichen.

Das haben in den letzten Jahren vor allem junge Familien zu schätzen gelernt, die aus diesem Grund vermehrt nach Nowa Huta gezogen sind. Generell identifizieren sich die Anwohner*innen mehr mit Nowa Huta als mit Krakau – zu unterschiedlich sind auch heute noch die Lebensweisen in dem Arbeitsviertel und der intellektuellen Kulturstadt. Für Joanna ist klar: "Wir sind stolz sagen zu können, dass wir aus Nowa Huta sind."

Ein Paradoxon der Geschichte

Aber es ist nicht nur die Stadtplanung, die das Leben in dem Viertel prägt, sondern vor allem die gemeinsame Geschichte. Nowa Huta sollte das Sinnbild für das ideale Leben der kommunistischen Arbeiter*innenklasse werden. Doch die Anwohner*innen haben sich schnell entschieden, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Bereits zu Beginn der 1960er-Jahre haben sich die ersten anti-kommunistischen Widerstände formiert. Vor allem in den 80er-Jahren wurde Nowa Huta Austragungsort für Streiks und Demonstrationen. Platz für Religion war im Kommunismus nicht vorgesehen, die Menschen sollten atheistisch leben. Primär der gemeinsame Kampf für die Errichtung einer Kirche hat die Menschen Nowa Hutas geeint. Der geteilte Glaube hat dem Viertel neue Hoffnung geschenkt und gezeigt, dass die Anwohner*innen vereint etwas bewirken können.

Und heute? Fühlt Joanna sich in ihrer individuellen Freiheit eingeschränkt? Nein, für sie ist der kommunistische Hintergrund vielmehr ein Anlass dafür, sich individualistischer auszudrücken: "Wir sind Individualist*innen, mit einem ausgeprägten Gefühl für Gemeinschaft." Zudem haben sich die Freiheitskämpfe auch in der Mentalität der Anwohner*innen verankert: "Die Leute hier sind es gewohnt für das zu kämpfen, was sie erreichen wollen. Das spürt man", sagt Joanna. Es scheint nicht zu verwundern, dass der Plac Centralny, an dem einst eine riesige Lenin-Statur stand, heute nach dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan benannt wurde.

Aus Südafrika in das Arbeiter*innenviertel

Für Monica (32) macht dieser widersprüchliche historische Kontext den besonderen Reiz von Nowa Huta aus. Obwohl sie in Johannesburg in Südafrika geboren und aufgewachsen ist, kennt sie das Viertel ziemlich gut. Seit ihrem fünften Geburtstag hat sie hier einmal jährlich ihre polnische Familie besucht. Entwicklungen konnte sie so besonders deutlich beobachten. Auffällig ist für sie vor allem, dass die Leute auf den Straßen mit der Zeit immer glücklicher wirkten. Aber auch ein starkes Verlangen sich voneinander abzuheben ist für sie erkennbar: "Der Kapitalismus ist hier intensiv zu spüren. Die Leute haben ein starkes Bedürfnis zu zeigen, was sie haben. Zum Beispiel, dass sie den neuesten und besten Kinderwagen auf dem Markt gekauft haben", sagt Monica. "Man möchte sich darüber ausdrücken, dass man nun unterschiedlich hohe Löhne erhält."

Vor zwei Jahren ist sie mit ihrem Ehemann nach Nowa Huta gezogen – in die ehemalige Wohnung ihrer Großeltern. In dem gleichen Gebäude hat einst ein Mitbegründer der Solidarność-Bewegung gelebt – für Monica sind es solche Details, die das Leben in Nowa Huta spannend gestalten: "Es ist faszinierend von der Geschichte zu lernen, indem man in ihr lebt." Der Umzug stößt dennoch häufig erst einmal auf Verwunderung. Doch für sie ist klar: In Nowa Huta fühlt sie sich freier und sicherer, vor allem abends auf den Straßen. Für Monica ist es die Mischung aus Ruhe, guter Infrastruktur, günstigen Wohnpreisen und dennoch der Nähe zur Krakauer Innenstadt, die das Viertel für sie so attraktiv macht. Zurück nach Südafrika? Das kann sich Monica nicht mehr vorstellen: "Wir fühlen uns hier wohl und denken gar nicht daran, eines Tages wegzuziehen. Wir genießen die Lebensqualität im Sommer hier sehr. Nur die Winter, die sind wirklich grau."

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