Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) entstand aus der rechten Szene der 1990er Jahre. Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tauchten 1998 unter. Der NSU flog auf, als Böhnhardt und Mundlos sich nach einem missglückten Banküberfall das Leben nahmen. Zschäpe zündete die Wohnung des Trios an und stellte sich. Der NSU ist für eine Mordserie verantwortlich, bei der zwischen 2000 und 2007 über ganz Deutschland verteilt acht türkischstämmige und ein griechischer Kleinunternehmer sowie eine Polizistin erschossen wurden. Außerdem verübte der NSU zwei Bombenanschläge in Köln, bei denen über 20 Menschen verletzt wurden und beging zahlreiche Raubüberfälle. Der NSU-Prozess war einer der größten Prozesses in der Geschichte der Bundesrepublik und endete nach fünf Jahren der Verhandlung.Katharina König-Preuss ist Mitglied des NSU-Untersuchungsausschusses Thüringen. Sie hat den Untersuchungsausschuss für Die Linke geführt, Akten gelesen und Zeug*innen befragt. Nach der Urteilsverkündigung am 11. Juli 2018 bleiben für die Politikerin viele Fragen offen. Neben denen, die für alle Hinterbliebene der Opfer am schwersten wiegt: Warum musste ihr Ehemann, Vater, Sohn, ihre Tochter oder Freundin sterben?

ze.tt: Frau König-Preuss, nach dem Prozess sagten Sie, es bleiben mehr Fragen als Antworten. Welche sind das?

Katharina König-Preuss: Die große Frage ist: Wer ist das Netzwerk? Wir unterstellen mit sehr vielen Indizien, dass es nicht nur Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe und die Angeklagten vor Gericht waren, sondern dass es ein Unterstützernetzwerk gibt, das mutmaßlich 100 bis 200 Personen stark ist. Da kommen wir nur in sehr kleinen Schritten voran. Eine weitere große Frage der Angehörigen, der ich mich anschließe, ist die Frage nach der Auswahl der Tatorte und Opfer. Die dritte große Frage ist die um die Kenntnisse der Sicherheitsbehörden. Wann wussten sie was und was ist mit diesen Informationen passiert?

Um welche Informationen geht es dabei?

Der Verfassungsschutz Brandenburg wusste, dass das Trio Waffen besorgt. Dass sie sich in Chemnitz aufhalten und wer sie dort vor Ort unterstützt. Der Thüringer Verfassungsschutz wusste, dass sie in Chemnitz untergetaucht waren und wusste, wer ihnen dabei geholfen hat. Es war bekannt, wer sie bei der Wohnungssuche und der Einrichtung der Wohnung unterstützt hat. Diese Informationen sind nicht an die Polizei weitergeleitet worden.

Das steht alles in den Akten?

Genau. Wir haben Akten, in denen V-Leute darüber berichten, dass die drei untergetauchten Neonazis gerade versuchen, Waffen zu besorgen, um einen weiteren Überfall zu begehen. Das bedeutet, dass die Information bekannt war, sie haben bereits einen Überfall begangen. Und es bedeutet eben auch, dass den Verfassungsschutzbehörden bekannt war: Die organisieren gerade Waffen.

Das hatte keine Konsequenzen?

Man hätte die Informationen an die Polizei weitergeben müssen. Das wurde aber nicht gemacht. Die Rechtfertigung dafür ist in den meisten Fällen der sogenannte Quellenschutz.

Was bedeutet der Quellenschutz?

Dass die V-Leute nicht enttarnt werden sollten, durch die Weitergabe der Informationen. Es gibt Mitarbeiter*innen des Verfassungsschutzes, die sagen: Wir haben das weitergegeben. Nur finden sich über diese Weitergabe der Informationen keine entsprechenden Notizen. Und die Polizist*innen sagen, sie hätten zugreifen können, wenn sie die Informationen gehabt hätten.

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Es waren also Menschen vom NSU beim Verfassungsschutz tätig?

Genau. Aus dem Umfeld des NSU-Kerntrios haben über 40 V-Leute beim Verfassungsschutz gearbeitet, sowohl beim Bundesamt als auch bei den Landesämtern. Sogar der militärische Abschirmdienst der Bundeswehr war beteiligt.

Was passiert mit diesen Menschen nach dem NSU-Prozess?

Nichts. Wenn es nach mir ginge, würden sie alle mit vor Gericht stehen. Sie wurden teilweise als Zeug*innen geladen. Strafrechtlich sind sie kaum angreifbar, weil sie ja die Informationen zur Verfügung gestellt haben. Die Mitarbeiter*innen des Verfassungsschutzes wiederum sagen, sie hätten auf den Quellenschutz geachtet und die Informationen deswegen nicht an die Polizei weitergegeben.

Sie fordern die Abschaffung des Verfassungsschutzes. Wie kann das aussehen?

Im tiefsten demokratischen Sinne muss man sagen, dass die Verfassung nicht durch eine Institution geschützt werden kann – erst recht nicht durch einen Geheimdienst. Die Verfassung sollte durch die Menschen, die in einer Demokratie leben und sich für diese engagieren, geschützt werden. Dann gibt es Gremien oder Institutionen, die dafür da sind, einzugreifen, wenn die Demokratie oder rechtsstaatliches Agieren behindert wird. Also die Polizei. Ob man diese stärkt und ob man verdeckte Ermittler*innen unter bessere Kontrolle stellt, wäre vor diesem Hintergrund zu überlegen. Damit man nicht Neonazis, die Neonazis sind, als Neonazis bezahlt, damit sie Neonazi-Informationen geben.

Das Urteil wurde jetzt gesprochen. Wie beurteilen Sie es?

Juristisch ist daran wohl nichts zu kritisieren. Politisch halte ich das Urteil für fatal. Das Urteil sendet das Signal: Wenn man vor Gericht schweigt, bekommt man weniger Strafe als jemand, der auspackt. Die Unterstützer*innen des Kerntrios haben nichts mehr zu befürchten. Dass Ralf Wohlleben und André Eminger jetzt auf freiem Fuß sind, zeigt auch, dass weder die Fragen der Angehörigen noch die weiteren Ermittlungen rund um das Netzwerk ausschlaggebend für das Gericht sind.

Sie sagen, juristisch ist am Urteil nichts zu kritisieren. Wie hätte ein Urteil aussehen können, dass Sie gerecht gefunden hätten?

Es gibt ja unterschiedliche Strafmaßmöglichkeiten. In diesem Fall sind sie nicht ausgeschöpft worden. Dabei geht es mir gar nicht um Beate Zschäpe – ihre 15 Jahre mit besonders schwerer Schuld sind eine eindeutige Verurteilung, sie wird auch nicht einfach nach 15 Jahren entlassen werden. Aber bei Ralf Wohlleben waren zwölf Jahre Haft gefordert. Reduziert wurden diese auf zehn Jahre. Damit war verbunden, dass er zur Urteilsverkündung bereits zwei Drittel seiner Strafe abgesessen hatte bei guter Führung. Dass er jetzt so schnell entlassen wurde, war dann allerdings doch eine böse Überraschung – nicht nur für mich.

Auch das ein Signal?

Auf jeden Fall. Ich kann es weder auf juristischer Ebene verstehen und noch weniger auf politischer Ebene. Noch unverständlicher ist das Urteil von André Eminger, für den zwölf Jahre gefordert wurden und der dann zweieinhalb Jahre bekam mit sofortiger Freilassung noch am Tag der Urteilsverkündung. Das schlimmste Signal ist es, weil beide sich bis zum Ende zum Nationalsozialismus bekannt haben. Der eine hat "Die Jew Die" ("Stirb, Jude, Stirb") auf seinen Bauch tätowiert, der andere wird bis heute von völkischen, militanten extrem rechten Gruppen finanziell unterstützt. Beide haben sich bis zum Ende zu dieser Ideologie bekannt – mit dem Urteilsspruch bekommen sie dafür eine Legitimation. Schweigt, bleibt bei eurer Ideologie treu, dann passiert euch nicht wirklich was.

Welche Konsequenzen hat das Urteil für die Neonazi-Szene in Deutschland?

Die Neonazis sind die Gewinner des Prozesses. Deshalb gab es auch den Jubel auf der Empore im Gericht und Feiern vor dem Gericht. Es ist ein Push für die Szene. Sie haben ein neues Idol, Wohlleben war das schon lange. Aber da kehrt jetzt eine Führungsperson aus der extrem rechten Szene zurück in die Szene. Er wird gefeiert werden und ganz sicher bald auch wieder aktiv werden. Es ist eine Stärkung der rechten Szene.

Wie geht es jetzt weiter?

Das Urteil ist erst mal so zu akzeptieren. Gleichzeitig müssen wir am NSU-Netzwerk dranbleiben und es offenlegen. Ein Problem ist, dass das Wissen um die Fehler des Verfassungsschutzes keine Konsequenzen hat. Auch das müssen wir weiter beobachten. Ich gebe wegen dem Verfassungsschutz nicht die Demokratie auf. Wichtig bleibt weiter, die Angehörigen zu hören. Zum Beispiel Elif Kubaşık, die Witwe des NSU-Mordopfers Mehmet Kubaşık, die sagt: Wir sind ein Teil dieses Landes und werden hier weiterleben.

Wie müsste es jetzt weitergehen?

Es betrifft die gesamte Gesellschaft, wenn der Verfassungsschutz wie im NSU-Komplex geschehen an den Grundpfeilern der Demokratie, an Grundpfeilern der Gesellschaft sägt. Das sollte also alle interessieren: Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, Initiativen. Es hätte in den vergangenen sieben Jahren einen Aufschrei geben müssen, hat es aber nicht. Das Thema ist vielleicht irgendwann zu groß geworden.

Wie groß ist das Thema für Sie persönlich geworden?

Ich sehe wirklich oft Nazis. Ich erkenne und registriere viele und manchmal ist das wohl merkwürdig, mit mir durch eine Stadt zu gehen, weil ich auf ganz andere Sachen achte und den NSU-Komplex immer im Kopf habe. Und ja, bekomme Morddrohungen in Form von Briefen und Anrufen bis hin zu dem Lied vom Erschießungskommando, in dem sie darüber singen wie sie mich ermorden wollen. Mir ist viel bewusster geworden, wozu Neonazis in der Lage sind.