Michelles Herz klopft, als sie die Treppen zur Besucherterrasse des Flughafen Tegels hinaufsteigt. Die 26-jährige Berlinerin ist aufgeregt, denn sie hofft, gleich ihren Schatz wieder zu sehen. "Hoffentlich steht er irgendwo", sagt sie. Michelle möchte ihn von Vorne sehen, sie liebt seine Nase. Seit sie das letzte Mal in auf den Besucherterrassen war, ist gut ein Monat vergangen. Sie musste eine ganze Weile ohne ihn auskommen, aber so ist das eben bei einer Fernbeziehung.

"Schatz", das ist die Boeing 737-800. Für Michelle ist das Flugzeug männlich. Sie hat sein Gesicht vermisst.

Objektophilie, ein kaum erforschtes Phänomen

Michelle ist "os", wie sie es nennt. "Os" steht für objektsexuell. So wird die sexuelle Anziehung von Menschen auf Gegenstände genannt. Der Begriff wurde von Eija-Ritta Eklöf-Berliner-Mauer erfunden. Eklöf-Berliner-Mauer ist mit der Berliner Mauer verheiratet. Objektsexuell, das ist eine Eigenbezeichnung und kein etablierter Begriff der Psychologie oder Medizin. Anfragen von ze.tt an verschiedene Sexualforscher*innen, Psycholog*innen oder Ärzt*innen blieben unbeantwortet.

Trotzdem: Für Michelle ist ihre Liebe zu dem Flugzeug vollwertig – emotional und körperlich: "Ja, ich habe Sex mit einer Boeing 737-800", sagt sie. Es ist ihr egal, dass der Begriff "Objektophilie" nicht pathologisiert ist, sie hat Schmetterlinge im Bauch, wenn sie darauf wartet, "Schatz" sehen zu können.

Auf der Besucherterrasse hat sie ihn entdeckt: "Ich glaube, da ist er jetzt, da sieht man ihn von vorn!", überschlägt sich ihre Stimme. Sie packt ihre Umhängetasche, auf der ebenfalls ein Flugzeug abgebildet ist, und rennt.

"Schatz", "Liebling" und "Süßer"

Die Boeing 737-800 ist etwa 30 Meter von Michelle entfernt. Sie steht oben auf der Aussichtsplattform, er unten. "Schatz" wird gerade betankt. Ob es ihm gut geht, ruft sie ihm zu, und ob die Passagiere ihn ordentlich behandeln, keinen Müll liegen lassen. Sie ist ein bisschen eifersüchtig auf die Fluggäste, die mitreisen, jeden Tag. Auch auf die Flugbegleiter*innen ist sie nicht so gut zu sprechen. Bei den Pilot*innen sieht das etwas anders aus: Die machen ihren Job, sie müssen ihren Freund fliegen und bedienen. Ein komisches Gefühl ist das für sie trotzdem, denn sie liebt ihn über alles.

Die Datenlage zur Objektsexualität – auch Objektophilie genannt – ist knapp. Oft wird die Objektsexualität mit etwaigen sexuellen Traumata erklärt. Hierfür gibt es allerdings keine validen Daten. In einer qualitativen Interviewstudie des "Electronic Journal of Human Sexuality" von 2010 gaben fünf von 21 Befragten an, mit dem Asperger Syndrom diagnostiziert zu sein. Das Asperger Syndrom ist eine schwache Form von Autismus. Menschen mit dieser Störung entwickeln oft ganz spezielle Interessen, in die sie sich vertiefen. Etwa für naturwissenschaftliche Fächer, für Musik, oder sie legen ungewöhnliche Sammlungen an, die sie liebevoll aufbauen und pflegen – bis zu dem Punkt, an dem sie den Objekten eine Seele zusprechen.

Asperger wurde bei Michelle nie attestiert. In ihrer Zweizimmerwohnung in Berlin Hellersdorf reihen sich blitzblankgeputzte Flugzeugmodelle eng aneinander. Die Einzelhandelskauffrau besitzt über 100 Modelle, die sie rund 5000 Euro gekostet haben. Hier steht "Schatz" in vielfacher Ausführung im Wandregal, auf dem Fensterbrett, im Wohnzimmerschrank – und er liegt auf dem Bett. An den Wänden hängen Fotos startender Flugzeuge, Nahaufnahmen von Tragflächen oder von "Schatz‘" Gesicht. Michelle kann ihm nah sein, auch wenn sie nicht auf dem Flughafen ist.

Neben "Schatz" gibt es auch Miniaturausgaben von "Liebling" (Boeing 777-200) und "Süßer" (Airbus A3-20). Die meisten Modelle sind um die 20 Zentimeter groß, Michelle hat aber auch drei, die eineinhalb Meter lang sind. Wenn die Einzelhandelsverkäuferin ihre Lieblinge pflegen und abstauben will, nimmt sie dazu einen Waschlappen und sich zwei bis drei Stunden Zeit.

Verlobt mit einem Flugzeug

Das größte Modell von "Schatz" liegt, bedeckt mit einer Decke, auf der ebenfalls ein Flugzeug zu sehen ist, im Schlafzimmer auf dem Bett. Hier haben sich Michelle und "Schatz" verlobt. Es war ein Tag im Herbst 2014, an dem es Michelle nicht so gut ging. Abends, spontan beim Kuscheln, hat sie ihn gefragt, bei gemütlichem Licht und romantischer Musik. Er war einverstanden, erzählt sie. Zur Verlobung hat sich Michelle eine Kette gekauft, die sie immer trägt. Der Anhänger: Ein Flugzeug.

Auf Männer konnte sich Michelle nie einlassen. Sie hat es probiert, auch Beziehungen geführt, aber einen Orgasmus mit einem Mann hatte sie nie. "Ich fühle mich von Menschen einfach nicht angezogen", sagt sie. Mit der Boeing 737-800 ist das anders, hier kommt sie zum Höhepunkt.

Als Michelle sich bei ihren Freunden mit ihrer Liebe outete, waren sie etwas misstrauisch. Michelle musste ihnen erst versichern, dass sie es ernst meint. Dass es Objektsexualität wirklich gibt. Inzwischen akzeptiert ihr Freundeskreis ihre Liebe vollkommen. Sie tue ja niemandem weh, argumentieren sie.

Mehr als ein Fetisch

Objektsexualität ist mehr als ein Fetisch, auch wenn Fetische ebenfalls oft auf Objekte gerichtet sind. So können High Heels oder Lederbekleidung auf manche Menschen sexuell anziehend wirken. Meistens jedoch wirken diese Fetische vor allem, wenn sie durch den Partner oder die eigene Person benutzt werden und als Symbol oder Zündstoff für sexuelle Praktiken dienen.

Für Michelle ist "Schatz" ein vollwertiger Partner. Ihre Beziehung, sagt sie, beruht auf Gegenseitigkeit. Für sie besitzt er eine Seele, die in allen Boeing 737-800 aller Airlines wohnt.

Bald wird Michelle nach Mailand fliegen. Sie wird dort eine Nacht verbringen. "Es ist ganz nett, mal Mailand zu sehen", sagt sie, fliegt aber nicht für die Stadt dort hin, sondern um ihrem Freund ganz nah zu sein. Eine Billigflieger Airline hat kürzlich ihre Flotte komplett auf die Boeing 737-800 umgestellt. So ist jetzt jeder Flug mit dieser Gesellschaft ein Flug mit "Schatz".