Nico fühlt sich gefangen, seit Jahren schon. Die vielen gesellschaftlichen und staatlichen Konventionen sind dem 38-Jährigen zuwider. Am schlimmsten spürt er diese Fesseln am Anfang des Monats, wenn die Rechnungen anfallen. Vor allem die Verträge für Strom, Wasser und Gas sind ihm zu undurchsichtig, der Papierkram nervt. Nicos Traum ist es, sich von diesen Verpflichtungen zu trennen und unabhängiger zu sein. Er will selbst für seine Energie sorgen. Er will Off-Grid leben.

Damit ist Nico nicht allein. In den vergangenen Jahren nimmt die Bedeutung der Off-Grid-Bewegung zu. Off-Grid bedeutet, seinen Haushalt von den öffentlichen Versorgungsnetzen abzukapseln und eigene Energie zu erzeugen. Dafür haben die Anhänger*innen des Lifestyles unterschiedliche Gründe: Manchen geht es um Nachhaltigkeit, anderen um Freiheit. Deshalb ist der Begriff schwammig: Einige fühlen sich schon Off-Grid, wenn sie eine Ikea-Solarzelle auf dem Balkon installieren, andere definieren sich erst so, wenn sie ein Einsiedlerleben in der Walachei führen.

Es ist ein weniger zivilisiertes Leben.

In den vergangenen Jahren spielt Nico alle Level des Off-Grid-Lifestyles durch – erst in Deutschland, später in Tonga, einem Inselstaat im Südpazifik. Dabei lernt er: "Es ist ein weniger zivilisiertes Leben." Denn wer entscheidet, sich nach und nach von der Grundversorgung abzukapseln, muss verzichten. Davon abgesehen, dass ein komplettes Off-Grid-Leben in Deutschland rechtlich nicht möglich ist – zum Beispiel ist es nicht erlaubt, auf einem Grundstück ohne Anbindung ans Wassernetz zu wohnen –, ist die Technologie noch nicht so weit. Ohne Komforteinbußen funktioniert Off-Grid noch nicht wirklich.

Zwar werkeln Unternehmen bereits am Off-Grid-Haus, das alle Ansprüche des modernen Menschen erfüllt – und sich etwa selbst beheizen und das Warmwasser aufbereiten kann; 2014 bezog ein Ingenieur Deutschlands das erste Haus dieser Art. Doch solche Bauten sind meist teurer als herkömmliche. Auch Gemeinden experimentieren mit dem Off-Grid-Leben. Feldheim in Brandenburg ist hierzulande der erste Ort mit eigenem Windpark nur für sich. Doch wirklich nachhaltiges, funktionierendes Off-Grid-Leben gilt als Zukunftsthema, als Sci-Fi.

Wie viele Off-Grid-Anhänger*innen diese Zukunftsvision bereits in Teilen leben, lässt sich nicht sagen. Vage Zahlen gibt es nur aus den USA: Dort sollen sich 2006 circa 180.000 Familien autark versorgen, Tendenz steigend.

Seine Freundin verlässt ihn, aber Nico knickt nicht ein

Für Nicos Wandel zum Off-Grid-Menschen ist 2009 ein Schicksalsschlag verantwortlich. "Mit Anfang 30 habe ich einen Schlaganfall gehabt", sagt er. "Das war ein Fingerzeig Gottes." Im gleichen Jahr bekommen seine Freundin und er eine Tochter. Die unmittelbare Erfahrung, dass sein Leben endlich ist und er das Leben seiner Tochter womöglich nicht lange verfolgen kann, schreckt ihn auf.

Er fasst den Mut, sich von seinen Fesseln zu lösen. Er wird zum Selbstversorger – auf möglichst vielen Ebenen. Nico beginnt, den Garten vor seinem Haus auf dem Land zu nutzen und Gemüse anzubauen. "Ich war immer schon ein Naturbursche", sagt Nico. "Und ich hatte mal Gärtner gelernt. Ein bisschen was wusste ich also."

Gleichzeitig reduziert er den Hausstand seiner Kleinfamilie. Nico verkauft das Auto und fährt nur noch mit dem Rad zur Arbeit. Den Fernseher wird er los und schaut Filme nur noch auf dem Rechner. Wozu zwei Geräte? Einen Teil der Elektrizität im Haus gewinnt er über Solarzellen auf dem Dach. Statt im Bad mit Wasser aus der Leitung zu spülen, nimmt er das Wasser aus der Regenrinne.

Seine Freundin erträgt das nicht und verlässt ihn, die gemeinsame Tochter nimmt sie mit. Nico denkt aber nicht daran, einzuknicken. Wie soll er auch, da er sich endlich frei fühlt?

Next Level: Ein Leben im Wald

Kritiker*innen mögen beanstanden, dass Off-Grid im Grunde nichts anderes als die hippe Bezeichnung für eine Lebensweise ist, die der Mensch tausende Jahre führte, bis er die wilde Welt erschloss. Auch heute sind schätzungsweise 1,7 Milliarden Menschen weltweit an keine Infrastruktur angeschlossen. Die Amischen verweigern sich wegen ihres Glaubens freiwillig moderner Technologie. Im globalen Süden steht Millionen Menschen grundsätzlich keine Infrastruktur zur Verfügung.

In dieses Extrem stolpert Nico unfreiwillig hinein. Über Bekannte erfährt er von einem Ökoprojekt, das im Königreich Tonga entstehen soll. Genauer: im Wald der Insel Hunga. Nach zwei Jahren weitestgehend netzunabhängigen Lebens in Deutschland ergibt sich nun die Gelegenheit, in den Wald zu ziehen.

Nico kündigt alles, was er noch kündigen kann – und fliegt nach Tonga. "Aber als ich dort angekommen bin, war das Projekt gestorben", erzählt er. Statt zurückzukehren, wittert er eine Chance. "Es war ein Wink des Schicksals", sagt Nico, die ultimative Herausforderung für seinen in Deutschland begonnenen Lifestyle. Wird er es in Tonga schaffen, wirklich Off-Grid zu leben? Er bleibt im Wald, allein.

Zu Beginn gestaltet sich der Plan als leicht umsetzbar. Das Land zum Wohnen bekommt er kostenfrei vom Gouverneur von Vava'u zur Verfügung gestellt. "Vielleicht wollten die auch einfach nur mal gucken, wie der Weiße so klarkommt", sagt Nico.

Nico schlägt ein Zelt auf, später sammelt er Holz und baut sich eine Hütte. Er braucht mehrere Anläufe, weicht immer wieder vom ursprünglichen Plan ab. Zunächst ernährt er sich von Reis, den er für circa einen Euro das Kilo günstig kaufen kann. Später pflanzt er Wurzelknollen vom wilden Maniok und Süßkartoffeln an. Papaya, Bananen, Kürbisse; er isst, was die Natur ihm gibt. Die Toilette gräbt er sich, Pfade zu Wasserstellen schlägt er sich eigenhändig durch den dichten Wald. Das einzige Dorf auf der Insel ist vier Kilometer weit entfernt.

Auch im Wald verläuft sein Leben in Schleifen

Er lernt viel in dieser Zeit. Über die Natur, über das Anpflanzen exotischer Früchte und über Zeit. Sein Verständnis dafür wird ein anderes, Uhrzeiten spielen keine Rolle mehr. Aber auch auf Tonga, weit weg von jeder deutschen Bürokratie und geregelten Tagesabläufen, verläuft sein Leben plötzlich in Wiederholungsschleifen. Genauer: in Zyklonschleifen. Starke Regenfälle und drückende Hitze wechseln sich ab. Sechs Monate lang. "Es war, als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt und dann ging es wieder von vorne los", sagt er.

Der Kontakt übers Internet reichte mir irgendwann nicht mehr.

Nach 20 Monaten verlässt Nico allmählich die Kraft. "Es war nicht das Wetter, am Ende war ich ziemlich abgehärtet", sagt er. Nicos Endgegner ist die Einsamkeit. Unregelmäßig hat er über sein Smartphone Kontakt mit seiner Familie zu Hause. Und er stellt etwas Überraschendes fest: Die Distanz schweißt ihn mit seinen Liebsten zusammen. Die Gespräche werden besser, weil sie zielgerichteter ablaufen.

Mit der Zeit merkt Nico, dass er zwar auf einer abgeschiedenen Insel lebt, er aber selbst keine Insel ist. Nico kann nicht alleine sein. Er braucht Gesellschaft. Er vermisst seine Tochter. "Der Kontakt übers Internet reichte mir irgendwann nicht mehr. Ich wollte wieder mit Menschen von Angesicht zu Angesicht sprechen und sie berühren."

Nico ist seit Kurzem wieder zurück in Deutschland. Nach dem Leben in Abgeschiedenheit reist er durchs Land und besucht Freunde. Unterdessen schmiedet er neue Pläne. Er überlegt, ob und wie er sich wieder einfügen kann, ob er wieder Teil der Gesellschaft und auch des Netzes werden kann. Zumindest ein Stück. Trotz seiner Erfahrungen in der Südsee wird er die Idee vom Off-Grid-Dasein wohl nie wieder aus dem Kopf kriegen.