Irgendwann in den 90ern, irgendwo in einer westdeutschen Großstadt. Es ist kurz vor Mitternacht, ich sitze mit ein paar Klassenkameradinnen auf der Terrasse nach einer Party, wir trinken abwechselnd aus einer Apfellikörflasche und irgendwann fragt Sarah: "Wer von euch hat sich schon mal selbst befriedigt?" Anna schaut mich an, ich schaue Melanie an, Melanie schaut Sarah an, wir alle schauen Nathalie an und irgendwann sagt Anna: "Okay. Ich zähle bis drei und dann müssen alle Hand hoch oder runter." "Drei …" Ich schaue nervös in die Runde, soll ich jetzt ernsthaft ehrlich sein? "Zwei …" Nun gut, denke ich mir, was soll's. "Eins …" Fünf Hände schnellen hoch.

Wir schauen uns kurz an und kichern. Anna steht auf, von irgendwem Zigaretten schnorren. Und wir reden wieder über die letzte Klassenfahrt.

Zumindest in meiner Erinnerung war das das einzige Mal, dass ich mich in meiner Jugend mit Freundinnen über Masturbation unterhalten habe. Es war zwar etwas, das wir taten. Zumindest einige von uns. Aber wir redeten nicht darüber. Mit niemandem. Dass wir es uns an diesem Abend überhaupt eingestanden, war schon ein großes Ding.

Zwanzig Jahre nach vorne gespult und ich sitze wieder mit zwei Freundinnen zusammen. Es geht wieder um Masturbation. Diesmal aber nicht um ein Geständnis, sondern um einiges mehr. Um das Wie. "Dass wir da mal so locker drüber reden könnten, hätte ich auch nicht gedacht", sagt Mia. Wir zwei anderen nicken.

Uns geht es da wie vielen Frauen unserer Generation. Ich mache bei Instagram zu dem Thema eine Umfrage und von gut 600 Frauen geben dort 78 Prozent an, in ihrer Jugend nie über Masturbation gesprochen zu haben. 65 Prozent geben an, das aber mittlerweile zu tun. Sicher, das ist keine verlässliche Umfragemethode, aber es gibt eine Tendenz wieder, die von vielen Frauen auch in persönlichen Gesprächen bestätigt wird.

Woran liegt das?

Die Gründe dafür sind so vielfältig wie tief verwurzelt. Die negative Sicht auf Masturbation hat sich schon im frühen Christentum etabliert, Theologen wie Augustinus hielten sexuelles Begehren für etwas Unnatürliches, was nur – so ein anderer Theologe, Thomas von Aquin – entschuldbar sei, wenn Lust dabei auf Nachkomm*innenschaft ziele. In anderen Worten: Lust an und mit sich selbst galt als etwas Böses. "Intrinsece malum", wie es genannt wurde.

Diese Sicht hat sich lange gehalten. Noch Anfang des vergangenen Jahrhunderts war die damit verbundene Sorge vor angeblich negativen körperlichen und psychischen Auswirkungen von Masturbation so groß, dass Eltern unzählige Ratschläge bekamen, wie sie ihre Kinder davon abhalten könnten. Viel sportliche Betätigung vor dem Schlafen gehen und Hände über der Decke waren nur zwei davon. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts wurden auch in Europa Klitorisbeschneidungen von jungen Mädchen durchgeführt, um sie von Masturbation zu "heilen".

Die Tabuisierung und Stigmatisierung von Selbstbefriedigung ist alt und nachhaltig, aber für uns – in Zeiten, in denen es in jedem Drogeriemarkt Vibratoren zu kaufen gibt – kaum mehr vorstellbar. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, sich klarzumachen, dass diese Tabuisierung noch nachwirkt. Das zeigen auch immer wieder Umfragen zum Thema unter jungen Menschen.

Aber was kann man dagegen tun?

Lotte und Lili kennen sich gut aus, wenn es um Solosex geht. Die beiden Frauen betreiben den Podcast Sex Tapes. Beide sind sicher, dass das Reden über Masturbation viel gegen die Tabuisierung tun kann. Und dass uns das auch persönlich gut tut. "Ein ganz massives Problem beim Thema Masturbation ist, dass es gesellschaftlich immer noch als negativer Sex gesehen wird, als Backup, wenn kein*e Partner*in zur Verfügung steht", sagt Lotte. Das Problem gebe es auch in Beziehungen. "So nach dem Motto: Wie kannst du nur?! Du könntest doch Sex mit mir haben."

Lotte sagt, dass sie in ihrer Jugend überhaupt nicht über Solosex gesprochen habe. Es sei höchstens mal als Randnotiz vorgekommen, aber nicht als etwas, was man lustvoll erleben kann.

Weibliche Masturbation war nicht sichtbar, im Gegensatz zu diesem Mythos des Kekswichsens. Was auch immer da dran sein soll – aber für Männer gab es immerhin eine Erzählung dazu.
Lotte

Für Männer sei das Reden über Masturbation einfacher gewesen. Da gab es zumindest Anekdoten wie das Kekswichsen, bei dem Jungs vorgeblich im Kreis um einen Keks stehen und versuchen, ihn bei der Ejakulation abzutreffen. "Weibliche Masturbation war nicht sichtbar, im Gegensatz zu diesem Mythos des Kekswichsens. Was auch immer da dran sein soll – aber für Männer gab es immerhin eine Erzählung dazu", meint Lotte.

Auch Toys für den Solosex hätten früher kaum eine Rolle gespielt. Dildos und Vibratoren seien etwas gewesen, das man eher als verrucht wahrgenommen hätte und auch der Zugang dazu sei früher nicht so einfach gewesen: "Außer in diesen nicht so einladend aussehenden Sexshops in irgendwelchen Einkaufspassagen", sagt Lotte.

Daher finden die beiden es auch so wichtig und schön, dass Solosex mittlerweile für viele Frauen ein Thema geworden zu sein scheint, das sie mit engen Freund*innen besprechen können: "Ich habe es selbst als so wertvoll empfunden, zu merken, dass das, was ich mache, normal ist. Ich habe Masturbation an sich schon immer okay gefunden, aber mich trotzdem komisch gefühlt mit der Art und Weise, wie ich es gemacht habe. Ich dachte immer, ich bin die Einzige, die es so macht und habe dann erst in Gesprächen gemerkt, dass das gar nicht stimmt. Das hat mir total geholfen."

Bei Gesprächen über Masturbation gehe es eben auch darum, herauszubekommen, wie man sich selbst anfassen und dabei Lust empfinden kann. Und diese Erfahrungen dann auch auf den Sex mit Partner*innen zu übertragen. "Und selbst wenn ich in solchen Gesprächen nicht viele Tipps mitnehme, finde ich es für die Enttabuisierung superwichtig", erklärt die 30-jährige Lotte. Schließlich sei Sexualität auch für die meisten von uns ein wichtiger Bestandteil des allgemeinen Wohlbefindens. Lotte wünscht sich daher, dass Masturbation auch als eine Form echter Sexualität anerkannt wird, als Sexualität mit eigenem Wert: "Wenn wir Selbstbefriedigung nicht nur als mangelhaftes Backup ansehen, auf das wir zurückgreifen, wenn gerade keine andere Person Lust auf Sex mit uns hat, können wir uns auch darüber lustvoll austauschen."