Zweimal nach links swipen, einmal nach rechts, noch mal nach rechts: "It’s a match!". Ein Wink-Emoji, ein kurzer Smalltalk, der oft ins Leere führt und manchmal zu einem Date auf ein Bier oder einem kurzen One Night Stand. Das Geschäftsmodell von Online-Dating Plattformen ist ausgelegt auf schnelle und unkomplizierte Treffen unter Fremden, meistens eher unverbindlich. Und das passt eigentlich gar nicht in Pandemie-Zeiten, in denen man Abstand halten und seine sozialen Kontakte beschränken sollte.

Trotzdem boomen die Plattformen in der Corona-Krise. Egal ob Tinder, OKCupid, Bumble Badoo oder Lovoo – alle wuchsen laut eigenen Angaben seit Beginn der Pandemie oder verzeichneten zumindest aktivere User*innen. Die Chat-Dauer von Personen, die ein Match haben verlängerten sich auf Tinder im Februar und März beispielsweise um 25 Prozent. Am 29. März gab es auf Tinder weltweit über drei Milliarden Swipes, so viele wie nie zuvor. Face-to-Face-Anrufe oder World-Wide-Dating-Features ermöglichen intensivere und vielseitigere Beziehungen im Digitalen.

Geht der Trend zum sogenannten "Slow-Dating" – dass ich Singles online erst mal besser kennenlernen wollen, bevor sie sich offline treffen? Wie hat sich das individuelle Online-Dating-Verhalten der User*innen seit Beginn der Pandemie verändert? Das haben wir vier Singles gefragt.

Karla*, 25 Jahre: "Auf Sex möchte ich nicht verzichten"

In den letzten Wochen habe ich ungute Erfahrungen mit der Corona-Policy von Männern gemacht. Ich hatte das Gefühl, viele wollen besonders schnell zur Sache kommen, denn die Situationen, in denen es zu One-Night-Stands kommt, sind natürlich seltener geworden.

Mein letztes Date hatte ich mit einem Arzt, von dem ich erwartet hätte, dass er korrekt ist – sowohl was Corona angeht als auch menschlich. Nach einem Getränk in einer Bar haben wir noch schnell einen Wein gekauft und sind zu mir nach Hause. Mir ging das etwas zu schnell, aber es war schon fast Sperrstunde. Ich dachte mir, wir trinken erst noch den Wein. Doch zu Hause ist er direkt über mich hergefallen. Ohne mich zu fragen, hat er seine Finger in meinen Mund gesteckt, die er nicht gewaschen hatte. Obwohl wir schon geknutscht hatten und das bestimmt irrational ist, habe ich mir Sorgen gemacht. Auf seiner Hand könnten sich Viren von Türklinken oder sogar aus der Klinik tummeln. Das war übergriffig, er hätte mich fragen müssen. In solchen Situationen bin ich oft überfordert. Mir fällt es schwer, übergriffiges Verhalten direkt anzusprechen.

Ich sehne mich für den Winter nach jemandem, der mit mir Netflix guckt und kuschelt.
Karla

Vor Corona habe ich die App oft genutzt, wenn ich Lust auf Sex hatte, möglichst noch am selben Tag. "Lass auf einen Vino treffen", ein Codewort, bei dem beiden klar ist, "Lass miteinander schlafen". Die aktuelle Situation verunsichert mich extrem. Zwar lebe ich alleine und arbeite im Homeoffice, also gefährde ich mit meinem Sexualleben keine Mitbewohner*innen – trotzdem fühlt es sich komisch an, sich direkt zu Hause zu treffen. Oft zögere ich Treffen deshalb hinaus. Doch auf Sex möchte ich nicht verzichten. Klar, mir geht es dabei auch um Nähe, aber vor allem um Bestätigung. Begehrt zu werden hilft mir dabei, mich selbstbewusst und schön zu fühlen.

Seit dem Vorfall mit dem Arzt habe ich mir vorgenommen, nicht mehr nur die "Schönlinge" zu liken. Die denken, sie können jede haben und deswegen auch alles mit dir machen. Für mich würde das bedeuten, weniger Sexdates zu haben und stattdessen verbindlicher zu daten. Aber für verbindliche Dates braucht man Bars, Theater und Kinos. Das einzige was bleibt, ist der Spaziergang. Ich will keine Zeit mehr mit Menschen verschwenden, die es mir nicht wert sind. Und natürlich sehne ich mich für den Winter nach jemandem, der mit mir Netflix guckt und kuschelt.

Wenn du mit einem Date eine übergriffige Situation erlebst (egal ob beim Chatten, Treffen oder Video-Call) kannst du das Profil in der App melden. Bei Tinder geht das unter dem Melde-Tool, das auf allen Profilen zu finden ist. Oder eine Mail an help@gotinder.com schreiben. Außerdem kannst du dich anonym per Telefon oder Online-Chat an das "Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen"

Noah*, 28 Jahre: "Ich war gefühlt dauer-online"

Tinder benutzte ich immer im Frühling, da wollte ich mich verlieben. Im Sommer war ich dann heartbroken und im Herbst und Winter war Detox angesagt. Dieser Frühling war anders. Nach einem ewigen On-Off mit meinem Ex-freund habe ich mich nach Aufregung und Bestätigung gesehnt. In Wien, wo ich lebe, ist Tinder normalerweise extrem begrenzt, wenn man nicht heteronormativ datet. Nach dreimal swipen ist oft niemand mehr in deiner Nähe. Und Gay-Apps wie Grindr sind mir zu explizit auf Sex ausgerichtet. Ich finde es komisch, erst mal etwas über die Penislänge meines Matches zu lesen.

Doch dann öffnete Tinder diesen April den Worldwide-Modus auch für nicht zahlende Abonnent*innen. Ich konnte plötzlich überall auf der Welt tindern. Damit ist es komplett ausgeartet. Ich war gefühlt dauer-online. Meistens war ich in Paris online unterwegs. Ich kenne die Stadt gut und hatte dort auch schon echte Tinder-Dates. Irgendwie läuft es dort immer besonders gut und ich habe eine sehr romantische Vorstellung von meinem Liebesleben in Paris – den ganzen Tag flanieren, schöne Bars, schöne Männer, leidenschaftliche Affären.

Ich hatte fast tausend Matches, nicht unbedingt weil mein Profil so heraussticht, sondern einfach weil ich so aktiv war. Natürlich habe ich da komplett den Überblick verloren und nur mit wenigen gechattet. Solche Tinder-Räusche hatte ich vor der Pandemie manchmal, wenn ich zum Beispiel wirklich in Berlin war, wo viel mehr schwule Nutzer unterwegs sind. Da habe ich manchmal bei einem Tinder-Date getindert. Obwohl ich die Person, mit der ich unterwegs war, mochte, habe ich weiter geswiped während sie auf der Toilette war. Ich war irgendwie süchtig und kann gar nicht genau sagen, nach was. Denn die meisten meiner Matches habe ich, genau wie während des Lockdowns, nie getroffen.

Er war die einzige Person, mit der ich seit Beginn der Pandemie Sex hatte.
Noah

Im März habe ich dann jemanden über den Worldwide-Modus kennengelernt. Er wohnt in Berlin. Seine Bilder sind mir besonders aufgefallen. Ich mochte seine Gesichtszüge und seinen Blick, irgendwas daran hat mich gefesselt. Wir haben geschrieben, gefacetimed und uns auf Instagram gefolgt.

Zwei Monate später haben wir uns in Berlin getroffen. Davor wäre ich gar nicht bereit gewesen für ein Date, denn die Ansteckungsgefahr und die Ungewissheit, wieviele Personen mein Date vor mir getroffen hat, hätten mich zu sehr verunsichert. Ich hab mich richtig in ihn verguckt und den Sommer über haben wir uns gegenseitig besucht. Er war die einzige Person, mit der ich seit Beginn der Pandemie Sex hatte.

Eigentlich wollte ich nie Tindern. Teil eines Online-Katalogs und damit irgendwie auch ein Produkt der App zu sein, plus die Gier nach Matches – das ist so oberflächlich und gleichzeitig so verführerisch.

Im April schaltete Tinder das Passport-Feature, das zuvor nur für zahlende Mitglieder verfügbar war, für alle User*innen frei. Damit kann man worldwide swipen und nicht nur im eigenen Land. Egal ob in Barcelona, Hong Kong oder eben Paris – wo ein potenzielles Date wohnt, schien plötzlich nicht mehr so wichtig zu sein. Die Zahl der Passport-User*innen stieg in Deutschland um 19 Prozent. Eine Umfrage der Plattform OkCupid ergab, dass immer mehr Menschen offen für eine Fernbeziehung seien.

Hannah*, 31 Jahre: "Zu wissen, dass man sich vermutlich gar nicht treffen wird, macht es umso aufregender"

Während andere Netflix guckten, ist für mich während des Lockdowns oft ein Tinder-Chat das Abendprogramm. Zu wissen, dass man sich vermutlich gar nicht treffen wird, macht es umso aufregender. Beim Chatten traue ich mich, forscher zu flirten, ich hatte das erste Mal digitalen Dirty Talk.

Bumble, Tinder und OkCupid hatte ich zwar schon vor Corona installiert, aber meist nur aus Langeweile hin und her geswiped und fast nie mit jemandem geschrieben. Meine Dates lernte ich im echten Leben kennen – zum Beispiel bei der Arbeit im Café. Als ich während den Kontaktbeschränkungen im Frühjahr eigentlich nur meine WG gesehen habe und alles ziemlich unaufregend war, fand ich Onlinedating plötzlich wieder spannend.

Mit zwei Männern habe ich über Wochen geschrieben, da war ein richtiger Flow drin, aber als ich den einen dann getroffen habe, war sofort klar: den Flow gibt es nur online. Wir trafen uns zum Spazierengehen. Im Gegensatz zu unseren Schnellfeuerchats entstanden extrem viele unangenehme Pausen. Wir haben uns danach nicht mehr gesehen und auch unser Chat war vorbei. Ich hätte ihn gern zurück gehabt zum Schreiben, aber die Luft war raus.

Ich will nur Personen daten, die verantwortungsvoll mit der aktuellen Situation umgehen.
Hannah

Einen Typ habe ich öfter getroffen, mit dem hatte ich auch offline viel Spaß. Manchmal haben wir uns im Späti noch ein Bier geholt. Während ich meine Maske schon parat hatte, hat er einfach keine aufgesetzt. Ich kam mir irgendwie spießig vor, habe ihn aber direkt darauf angesprochen. Wenn da keine anderen Leute wären, dann ist es doch egal, meinte er. Naja, ein Verkäufer steht ja immer im Laden. Wir hatten eine hitzige Diskussion darüber. Ich will nur Personen daten, die verantwortungsvoll mit der aktuellen Situation umgehen und er ließ sich nicht überzeugen. Wir haben uns dann nicht mehr getroffen.

Bevor ich Sex mit einem meiner Dates habe, treffe ich die Person sowieso mehrmals. Ich will erst herausfinden, ob er ständig auf Tinder-Dates geht, ob er wirklich cool ist und ob ich überhaupt Lust habe, mit ihm ins Bett zu gehen. Beim Dating spielt mir das Virus in die Karten. Ich bin sowieso eher eine Slow-Daterin und die Bereitschaft von vielen zu schnellen One Night Stands während der Pandemie überrascht mich. Jetzt gibt es einen sehr guten Grund, nicht nach dem ersten Date zusammen nach Hause zu gehen. Und den akzeptieren auch alle.

"Cuffing Season", so nennt man in Online-Dating Sprache die Zeit im Herbst, in der sich viele Singles nach einer Beziehung für die kalte Jahreszeit, nach jemandem zum Überwintern, sehnen. Von der "Covid Cuffing Season" spricht Bumble in diesem Jahr, und scheinbar sind die User*innen entschlossener denn je. Bei einer Umfrage unter 1.400 Bumble Nutzer*innen gab die Hälfte an, dass ihr Wunsch, eine*n Partner*in zu finden angesichts des Winters und eines möglichen Lockdowns zugenommen hat. Das sind mehr als in Zeiten vor Corona.

Emir*, 30 Jahre: "Es ging mir gar nicht nur um Sex, sondern einfach um Nähe"

Ich habe alle meine Online-Dating-Profile gelöscht. Auch zu Beginn des Lockdown light bin ich zuversichtlich, dass ich sie im Corona-Winter nicht wieder installieren muss. Für mich war Onlinedating eine kurze Affäre.

Im Februar bin ich von Berlin nach München gezogen. Normalerweise lerne ich schnell neue Leute kennen. In Berlin gehe ich mindestens einmal im Monat feiern, oft habe ich dann an einem Wochenende mehrere One-Night-Stands, manchmal mehrere Partnerinnen an einem Abend. Partynächte sind für mich pure Flirts. Und Flirts, kürzere und längere Affären sind für mich ein wichtiger Bestandteil meines Lebens.

Plötzlich saß ich  single in München im Lockdown allein in einem winzigen WG-Zimmer. Ich war nicht einsam, auch nicht traurig, mir hat vor allem körperliche Nähe gefehlt. Die Tinder- und Bumble-Apps hatte ich auf meinem Handy installiert. Ich hatte sie bisher nur sporadisch genutzt, wenn ich Lust auf was Bestimmtes hatte, zum Beispiel ältere Frauen zu daten, die mir in meinem Alltagsleben sonst nicht unbedingt begegnen.

Augenflirts mit Maske sind für mich viel interessanter als Matches.
Emir

Natürlich habe ich dann angefangen zu swipen. Es ging mir gar nicht nur um Sex, sondern einfach um Nähe. Die Umarmung eines guten Freunds hätte mir wahrscheinlich sogar gereicht. Während der Hochphase der Kontaktbeschränkungen habe ich auf Bumble drei Frauen kennengelernt. Klar, alle waren etwas vorsichtiger, wir haben länger gechattet oder sogar telefoniert. Dann war aber schnell klar, wir treffen uns  und zwar gleich zu Hause.

Wenn jemand zu mir kam, habe ich sie erst mal gebeten, ins Bad zu gehen und sich die Hände zu waschen. Eigentlich war das für alle selbstverständlich, nur eine hat das irritiert. Der erste Kuss war komisch, da bekam man die Gedanken an die Viren nicht aus dem Kopf: Wen hat sie noch alles getroffen? Wie viele Viren tauscht man noch mal aus bei einem Zungenkuss? Doch dann war schnell alles vergessen. Wir hatten uns ja beide bewusst dazu entschieden, das Risiko einzugehen und irgendwie hat das die Situation noch aufregender gemacht.

Als die Gastronomie wieder offen war, war ich kaum noch online. Augenflirts mit Maske sind für mich viel interessanter als Matches. Ich möchte nicht mehr swipen wie ein Irrer. Auch wenn man sich mit Respekt begegnet, und auch mit Video-Call-Funktionen bleibt es oberflächlich – oft guckt man sich die Profile gar nicht genau an. Dieses lustlose Hin-und-her-Gewische ekelt mich an. Deswegen werde ich mich im Lockdown light voll und ganz auf die Partnerinnen konzentrieren, die ich in den letzten Monaten kennengelernt habe.

Am 28. Oktober startete Tinder das Face-to-Face Angebot in Deutschland. Eine Video-Call Funktion, die zu Beginn der Pandemie schon in den USA getestet wurde. Bei Bumble kann man schon seit einem Jahr videotelefoneren, die Plattform will Onlin-Dating so sicherer gestalten. Während der Pandemie stieg die Nachfrage extrem an. Die Online-Dating Plattformen vermuten, dass sich Video Calls als Form des "Pre-Datings" auch nach der Pandemie durchsetzen.

*Die Protagonist*innen möchten anonym bleiben, deswegen haben wir ihre Namen geändert. Der Redaktion sind sie bekannt.