Aufarbeitungsweltmeister*innen. So sieht man sich in Deutschland gern. Als jene, die sich mit ihrer Vergangenheit, insbesondere den NS-Verbrechen, geradezu vorbildlich auseinandergesetzt haben. Dieses Bild hält sich in der deutschen Gesellschaft hartnäckig. Und das, obwohl die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die anderes belegen, seit Jahren und Jahrzehnten vorliegen.

Überhaupt, wie verfehlt ist das Wort "Aufarbeitungsweltmeister*innen"? Wer würde aus der Aufarbeitung des Holocausts einen Wettbewerb machen? Was gäbe es da zu gewinnen? Für wen? Für Deutschland sicherlich nichts. Was für ein unmögliches Wort.

… dass Auschwitz sich nicht wiederhole

Der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn formuliert es in seinem jüngst veröffentlichten Essay Kollektive Unschuld ganz deutlich: "Es ist nicht weniger als die größte Lebenslüge der Bundesrepublik: der Glaube an eine tatsächliche Aufarbeitung der Vergangenheit." Vielmehr sei die deutsche Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg von einer "Tätergemeinschaft des Nationalsozialismus" zu einer "Erinnerungsabwehrgemeinschaft der Bundesrepublik" geworden.

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Sicher habe es kritische Stimmen gegeben, die Umfassendes zur Aufarbeitung der Shoa geleistet haben, aber: "Sie alle waren nie die Mehrheit in Deutschland", schreibt Salzborn. Die meisten seien selbst Jüd*innen gewesen oder auf ihre jeweilige Weise Außenseiter*innen der deutschen Gesellschaft.

Schuld trifft nicht nur die, die im Nationalsozialismus mordeten. Schuld ist vielfältig.

2020 jährt sich der Tag der Befreiung zum 75. Mal. Dieser Tag ist trotz wiederholten Forderungen und Petitionen, aktuell unter anderem von der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano, kein Feiertag in Deutschland. An vielen Stellen, im Netz und in öffentlichen Ansprachen wird es wieder heißen: "Nie wieder." Ob allen bewusst ist, was das erfordert?

Eine Mehrheit will einen Schlussstrich

Aktuelle Befragungsergebnisse ziehen das, einmal mehr, erheblich in Zweifel. So hat Die ZEIT in der vergangenen Woche eine eigens in Auftrag gegebene Umfrage veröffentlicht, in der 1.044 Personen ab 14 Jahren zu ihren Einstellungen zur NS-Zeit befragt wurden. Manche Aussagen stehen sich dabei vermeintlich widersprüchlich gegenüber, insbesondere diese beiden:

53 Prozent der Deutschen wollen einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen.

77 Prozent sehen es als ihre Pflicht, dass die NS-Diktatur und der Holocaust nicht vergessen werden.

Wollen die Befragten nun erinnern oder wollen sie nicht? Tatsächlich sind die beiden Antworten nicht so gegensätzlich, wie sie zunächst scheinen. Dafür müssen wir eine Sache wissen, für die wir zunächst eine weitere wissenschaftliche Untersuchung heranziehen.

Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld hat 2019 die sogenannte MEMO-Studie vorgelegt, den Multidimensionalen Erinnerungsmonitor. Darin geben 69,8 Prozent der 1.000 Befragten an, der Auffassung zu sein, dass ihre Vorfahren nicht unter den Täter*innen im Nationalsozialismus waren. 35,9 Prozent glauben, ihre Vorfahren waren unter den Opfern jener Zeit und 28,7 Prozent behaupten sogar, dass ihre Vorfahren potentiellen Opfern im Nationalsozialismus geholfen hätten.

Kurzer Faktencheck zum letzten Punkt: Historischen Schätzungen zufolge haben ungefähr 0,3 Prozent der deutschen Bevölkerung potentiellen Opfern des Nationalsozialismus tatsächlich geholfen. Nicht wenige scheinen sich also eine für sie entlastende Familiengeschichte zusammenzuzimmern, die schlicht nicht stimmen kann. Ganz nach dem Motto: Opa war kein Nazi.

Schuld ist mehr als unmittelbare Täter*innenschaft

So bemerkenswert wie ungeheuerlich ist, welches Verständnis von Schuld und der eigenen Rolle und Verantwortung in den Antworten der MEMO-Studie zum Vorschein kommt. Es wird behauptet, die Mehrheit der Deutschen sei unschuldig gewesen, manche werden noch unverschämter und stellen sich selbst als Opfer dar. Dieses Ergebnis liefert auch die ZEIT-Umfrage, in der 53 Prozent der Meinung sind, dass es nur einige Verbrecher*innen waren, die den Krieg angezettelt und die Jüd*innen umgebracht hätten.

Wer die tatsächliche Rolle der deutschen Bevölkerung in den NS-Verbrechen umfassend anerkennt, weiß, dass es einen Schlussstrich niemals geben kann.

Schuld trifft aber nicht nur die, die im Nationalsozialismus mordeten. Schuld ist vielfältig und viel weitgreifender zu verstehen. Der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn nennt dafür in seinem Essay eine ganze Reihe eindrücklicher Beispiele:

"Die Schuld, weggesehen zu haben; die Schuld, die offensichtlichen Lügen der Nazis geglaubt zu haben; die Schuld, die Straßenseite gewechselt zu haben, wenn einem ein Jude oder eine Jüdin entgegen kam; die Schuld, nicht in jüdischen Geschäften gekauft zu haben; die Schuld, Jüdinnen und Juden nichts verkauft zu haben; die Schuld, von Raub und Plünderungen der deutschen Soldaten profitiert zu haben; die Schuld, die Nazis gewählt zu haben; die Schuld, in einer der unzähligen Situationen des Alltags geschwiegen zu haben."

Zu fordern, dass die NS-Diktatur und der Holocaust nicht in Vergessenheit geraten dürfen, ist leicht, wenn man dabei nicht sich selbst, nicht die Geschichte und Beteiligung der eigenen Familie mit meint. Wenn man dabei die Taten von den Täter*innen trennt, und damit die NS-Verbrechen von den eigenen Vorfahr*innen und Verwandten. Wer die tatsächliche Rolle der deutschen Bevölkerung in den NS-Verbrechen umfassend anerkennt, weiß, dass es einen Schlussstrich niemals geben kann. Offensichtlich weiß eine Mehrheit der Deutschen das nicht. Oder sie will es nicht wissen.

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