Ich hatte mal einen Kollegen, der hockte zwischen bedenklich hohen Bücherbergen. Während der Anblick seines chaotischen Schreibtisches bei mir Fluchtreflexe auslöste, konnte er seelenruhig aus dem höchsten Zettelstapel sekundenschnell einen Ausdruck von vorvorletzter Woche fischen. Kreatives Chaos sagte er dazu und ich fühlte mich gleichzeitig fasziniert und abgestoßen.

Kreatives Chaos steht für die – ziemlich strapazierte – Annahme, dass besonders kreative Menschen schlicht keine Kapazitäten für so weltlich-banale Dinge wie Ordnung hätten, sie enge ihre Schaffenskraft ein und bremse den ungehemmten Ideenfluss. "Wenn ein unordentlicher Schreibtisch einen unordentlichen Geist widerspiegelt, was sagt dann ein leerer Schreibtisch aus?", hat Albert Einstein einst gefragt. Aber stimmt das wirklich, mögen Musen es unaufgeräumt?

Kreatives Chaos und Faulheit

"Das kreative Chaos ist ein Mythos", erklärt mir die Ordnungs-Expertin Ursula Kittner. "Es wird gern als Ausrede benutzt. Sicherlich gibt es Menschen, die auch durch das größte Chaos noch hindurchfinden. Allerdings wird die Mehrheit kreativer, wenn der Kopf frei ist."

Klar ist: Das Umfeld wirkt auf uns, wir sind Wesen mit fünf Sinnen und einem reizempfänglichen Gehirn. Logisch, dass das Umfeld auch unsere Kreativität und Produktivität beeinflusst. Wie genau, das hängt dabei unter anderem sehr von der Aufgabe ab.

Ordnung ist das halbe Leben – und der Rest?

"Um wirklich konzentriert und effektiv zu arbeiten ist ein leerer Schreibtisch wichtig", sagt Ursula Kittner. "Dadurch lenkt nichts ab; der Blick bleibt nicht zwischendurch woanders hängen, was die Gedanken durcheinanderbringt."

Auch ein Team von Wissenschaftler*innen um die Psychologin Kathleen Vohs an der Universität Minnesota hat 2013 herausgefunden, dass ein aufgeräumtes Umfeld die Proband*innen großzügiger werden sowie konventionellere und gesündere Entscheidungen treffen ließ. "Ordentliche Umgebungen begünstigen, dass wir auf Nummer sicher gehen", so Vohs.

Allerdings hätten auch chaotische Umfelder interessante Ergebnisse geliefert. Vohs: "Sie scheinen einen Bruch mit Traditionen zu begünstigen, was zu neuen Erkenntnissen führen kann." Mit anderen Worten: Unordnung kann durchaus neue Gedanken und unerwartete Verknüpfungen im Gehirn stimulieren.

Konzentration versus Chaos

Wer sich also konzentrieren und Dinge fokussiert abarbeiten will, ist mit einem aufgeräumten Schreibtisch deutlich besser bedient. Wer hingegen neue Ideen entdecken möchte, darf es wild und unordentlich haben.

Dummerweise brauchen wir im Job oft beides und leider lässt sich das kreative Chaos nicht einfach ein- und ausschalten wie das Licht – genauso wenig wie Kreativität selbst. Aber: Alternative Stimulationen bekommen wir durch Sinnesreize wie Musik, interessante Bilder, einen Spaziergang. Und indem wir das Gehirn einfach mal in Ruhe Hintergrundarbeit verrichten lassen.

Vielleicht ist weniger die (Un-)Ordnung am Arbeitsplatz entscheidend, sondern eher die grundsätzliche Tatsache, an einem Schreibtisch sitzen und auf Kommando Ideen und Ergebnisse produzieren zu müssen.

Wie zähmt man das kreative Chaos?

Letztlich muss jede*r ein System für und ein Maß an Ordnung finden, das zu ihm*ihr und der Aufgabe passt und im Alltag umsetzbar ist. Eine Faustregel hat die Expertin aber: "Auf dem Idealen Schreibtisch liegen nur die Dinge, an denen gerade gearbeitet wird. Für alles andere gibt es Mappen, Ordner oder Ablagekörbchen."

Wer die hohen Bücherberge und Zettelstapel im kreativen Chaos bekämpfen will, sucht sich laut Ursula Kittner am besten Hilfe bei Kolleg*innen: "Dann gemeinsam den Schreibtisch ganz leer räumen und erst mal in die Schubladen schauen. Was schlummert dort schon viel zu lange und kann ausgemistet werden, sodass dort andere Dinge einen festen Platz bekommen?"

Auf dem Schreibtisch selbst herrschen danach Ordnung und Übersicht; rundherum darf es gern Lichterketten, Grünpflänzchen, Fußball-Wimpel und bunte Bilder zur Inspiration geben. Für mehr Kreativität und weniger Chaos.