Das letzte Mal war ich am 21. April 2018 in einem Pflegeheim. Ich weiß es deshalb so genau, weil das der erste Todestag meine Opis war und ich seiner ehemaligen Station sein altes, magnetisches "Mensch Ärgere Dich nicht" geschenkt habe. Von den Pflegekräften, die sich während der Zeit meiner beiden inzwischen verstorbenen Großeltern in der Einrichtung um sie gekümmert haben, gab es während der Übergabe im Stationszimmer noch zwei, die sich an Omi und Opi erinnern konnten. Die Fluktuation ist hoch in der Pflege. Der Job ist auf mehreren Ebenen extrem anstrengend.

Das war schon vor Corona ein bekanntes Problem. Schlechte Bezahlung, belastende Arbeitsbedingungen, keine ausreichende Wertschätzung für hochprofessionelle Arbeit mit großer Verantwortung. Wie das konkret aussieht, was das für Pflegepersonal, Patient*innen und Angehörige bedeutet das Ausgeliefertsein, die Ohnmacht, die Fehler, der Frust , das verdrängen wir so lange, bis es uns selbst betrifft und wir mit dem zermürbten und kaputtprofitisierten Pflegesystem konfrontiert sind.

Doch durch die Corona-Pandemie hat sich der Alltag in vielen Bereichen verändert, genau wie die Perspektive. Oder? Spätestens jetzt sollten wir zum Beispiel verstanden haben, wie essenziell Pflege sowohl in Pflegeheimen als auch in Krankenhäusern für die Gesellschaft ist. Und die rund 1,7 Millionen in der Pflege Beschäftigten entsprechend konkret unterstützen, fördern, wertschätzen, entlohnen. Über Applaus hinaus.

Tja. Ein halbes Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie ist nur eins klar: Wir haben nichts gelernt.

Netter Versuch, aber ...

Im Mai hat der Bundestag eine Corona-Prämie verabschiedet. Altenpfleger*innen sollen demnach einmalig steuerfrei bis zu 1.500 Euro bekommen. Pflegepersonal in Krankenhäusern ja, das ist da, wo schwere Covid-19-Fälle unter Anstrengungen und Gefahren intensivmedizinisch versorgt werden bekommen hingegen keinen Bonus.

Die Bundesregierung begründet das damit, dass Beschäftigte in der Altenpflege weniger verdienen als ihre Kolleg*innen in der Gesundheitspflege. Die allerdings sind ebenfalls unterbezahlt. Hinzu kommt, dass die Details der Auszahlung Ländersache sind, weshalb es unterschiedliche Termine und unterschiedliche Beträge gibt.

Die Prämie mag zwar im Grundsatz eine anständige Geste und konkreter als abendliches Balkonklatschen sein. Trotzdem ist die Verteilung nicht fair, sorgt für Wut und Frust. Und so gut Extrageld auf dem Konto auch tun mag – eine Einmalzahlung ändert nichts an den Problemen im System.

Warum tut sich nichts?

Ein Grund dafür, dass sich nichts ändert, ist die Geringschätzung von Care-Arbeit – basierend auf kapitalistisch geprägten Werten und Erfolgsdefinitionen. Harte und messbare Kriterien wie maximaler Profit und Rendite zählen – Menschen, die sich um andere Menschen kümmern und Leben retten, nicht. Egal, wie qualifiziert, professionell und systemrelevant sie sich erwiesen haben.

Mehr als vier von fünf Beschäftigten in der Pflege sind Frauen.

Das ist unter anderem erkennbar daran, wie viel Geld der Staat vergleichsweise für andere Branchen lockergemacht hat. Rettungspaket für die Lufthansa: 9 Milliarden Euro. Konjunkturpaket 2020: 130 Milliarden Euro. Ein Pflegebonus für alle Pflegekräfte in Deutschland hätte rund 2,5 Milliarden Euro gekostet.

Oder auch daran, dass Angestellte in der Pflege in vielen Bundesländern nur im Einzelfall und nicht regel- und standardmäßig auf Corona getestet werden, obwohl sie von Berufs wegen einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sind – und selbst auch andere Erkrankte oder Geschwächte anstecken könnten. Zuerst seien Fußballprofis getestet worden, dann Schlachthofmitarbeiter*innen und nun Urlauber*innen – Pflegekräfte blieben außen vor, wie Nadya Klarmann von der niedersächsischen Pflegekammer kritisierte.

Klingt das nach Wertschätzung, nachhaltiger Verbesserung oder Veränderung? Wohl kaum.

Mehr als vier von fünf Beschäftigten in der Pflege sind Frauen. "Tatsächlich wird heute immer noch davon ausgegangen, dass Fürsorglichkeit im weiblichen Geschlechtscharakter liegt und sieht darin nicht eine Qualifikation, die ausgebildet und bezahlt werden muss (…). Berufe, die nah an der Hausarbeit sind, werden bis heute mythologisiert und gleichzeitig entwertet", sagte auch die Geschlechterforscherin Barbara Thiessen im Interview mit Die ZEIT.

Die Corona-Krise hat uns die Auswirkungen dieser Entwertung unmissverständlich und kompromisslos vor Augen geführt und gezeigt, dass derartiges Denken uns allen gefährlich werden kann – wenn beispielsweise nicht genug Menschen in der Pflege arbeiten, weil sowohl Bezahlung als auch die Bedingungen mies sind. Nicht nur, aber vor allem in Krisenzeiten.

Zugespitzt formuliert: Manager*innen, Consultants oder Investmentprofis beatmen niemanden.

Was sich hätte ändern können

Zu Beginn der Corona-Pandemie hat die examinierte Krankenschwester Yvonne Falckner aus Berlin gemeinsam mit anderen eine Petition gestartet, die fast eine halbe Million Menschen unterzeichnet hat.

Die Forderungen an Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) darin lauten unter anderem: Beschaffung von Schutzmaterialien und -kleidung, Mobilisierung von Pflegefachkräften aus anderen Bereichen wie beispielsweise Prüfbehörden, staatliche Lohnzulage für alle und deutliche Lohnsteigerungen für Pflegefachkräfte. All das ist auf die akute Corona-Situation bezogen.

Wir alle, ohne Ausnahme, werden irgendwann auf gute Pflege angewiesen sein. Dass wir es trotz Corona noch immer nicht verstanden haben, ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft.

Schon weit vor der Pandemie habe ich eine Twitter-Umfrage unter Menschen in Pflegeberufen gemacht und sie nach ihren Bedürfnissen, Wünschen und Ideen gefragt.

Zu den Antworten gehörte Folgendes: Bessere Bezahlung mit spezifischen Anreizen und Ausgleichszahlungen (zum Beispiel fürs Einspringen), bessere und klarer geregelte Aus- und Weiterbildung, auch für ältere Angestellte und Führungskräfte, mehr Entwicklungsmöglichkeiten, Digitalisierung, insgesamt bessere Bedingungen – zum Beispiel mehr Personal, kleinere Betreuungsschlüssel, klare Zuständigkeiten, verlässliche Dienstpläne, Teilzeit- oder andere neue Arbeitszeitmodelle, weniger Fluktuation und Zeitarbeitskräfte. All das ist nötig, um Stress zu verringern, Fehler zu vermeiden und gute Pflege gewährleisten zu können.

Vielen war auch höheres Ansehen der Pflegeberufe wichtig, einschließlich positiverer medialer Darstellung. Logisch: Wenn überwiegend Gruselgeschichten existieren, prägt das das öffentliche Bild. Und führt dazu, dass sich noch weniger Menschen für Pflegeberufe entscheiden. Das ist ebenso schade wie ein Problem, denn Pflege ist nicht nur systemrelevant, sondern auch ein spannendes Berufsfeld mit hochspezialisierten Tätigkeiten. Vorausgesetzt, die Voraussetzungen stimmen.

Dass das passiert, liegt zum einen in der Macht der Politiker*innen. Zum anderen aber auch in der gesellschaftlichen Wertschätzung für Care-Arbeit und damit einhergehend auch in der Gleichberechtigung von Frauen. Erst, wenn die Gesellschaft erkennt, dass Fürsorgeberufe kein Stück weniger anspruchsvoll, qualifiziert und verantwortungsvoll sind als Managerjobs und dass Merci-Schokolade und Klatschen kein Ersatz für echte Wertschätzung und angemessene Arbeitsbedingungen sind, kann sich wirklich etwas bewegen.

Es betrifft uns alle

Wenn Omi und Opi jetzt in der Corona-Zeit noch leben würden, würde ich aus Angst um sie wahrscheinlich keine ruhige Minute haben. Ich habe das Pflegesystem nicht nur als Angehörige, sondern auch als Patientin sehr gut kennengelernt. Mit all seinen Fehlern, Rissen und Kratern. Und eins ist mir klar geworden: Wir alle werden im Laufe unseres Lebens mal erkranken oder eines Tages alt und gebrechlich.

Wir alle, ohne Ausnahme – und das betrifft auch Politiker*innen –, werden irgendwann auf gute Pflege angewiesen sein. Um das zu begreifen, braucht es eigentlich keine Pandemie. Dass wir es trotz Corona noch immer nicht verstanden haben, ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft.