Viele der Vorstellungen, die wir als traditionell männlich wahrnehmen, sind längst überholt, findet Fabian Hart. In seinem Podcast Zart bleiben spricht der Autor und Modejournalist mit unterschiedlichen Gästen über das Konzept Männlichkeit – und warum es an der Zeit ist, dieses immer wieder kritisch zu hinterfragen.

ze.tt: Fabian, Thema deines Podcasts Zart bleiben ist Männlichkeit. Warum ist dein erster Gast Sibylle Berg, eine Frau?

Fabian Hart: Mit

Zart Bleiben gründe ich ja keinen neuen Männerclub und auch keinen Audioguide zu "Wie sichern wir das Patriarchat?". Ganz im Gegenteil. Traditionelle Männlichkeit betrifft alle Geschlechter und trifft alle Geschlechter – also auch Frau Berg.

Inwiefern trifft Männlichkeit auch Männer?

Wir bekommen doch alle von klein auf beigebracht, was es bedeutet, männlich zu sein. Das manifestiert sich in Sprüchen wie: "Große Jungs weinen nicht", "Sei kein Schwächling!", "Sei keine Pussy", "Hab mal Eier in der Hose!". Warum ist es noch immer eine Grenzerfahrung, als Mann öffentlich zu weinen? Weil es noch immer degradierend ist für das vermeintlich "starke Geschlecht," Schwäche zu zeigen. Das heißt nicht, dass das auf alle Männer zutrifft, aber diese traditionellen männlichen Eigenschaften sind immer noch prägend für unsere heutigen Gesellschaftsstrukturen.

Dieses Stereotyp wird zum Problem für Männer, die nicht dem Bild des "richtigen Kerls" entsprechen. Sie gelten als schwach, als untergeordnet. Das trifft beispielsweise homosexuelle Männer und Personen der LGBTQI+-Gemeinschaft, aber auch andere marginalisierte Männlichkeitsbilder. Männer mit Behinderung beispielsweise oder diejenigen, die aufgrund ihrer Größe, Stimme oder Hautfarbe nicht dem traditionellen "Bild von einem Mann" entsprechen können: groß, muskulös, heterosexuell, dominant, aber eben auch heterosexuell und weiß.

Ich möchte nicht diesem traditionellen Rollenbild eines Manns entsprechen.
Fabian Hart

Aber wenn ich sage, dass Männlichkeit alle trifft, dann meine ich auch diejenigen Männer, die den Ansprüchen traditioneller Männlichkeit scheinbar gerecht werden. Sich die ganze Zeit dahingehend zu überprüfen, sich im Griff zu haben und dir dessen vielleicht schon gar nicht mehr bewusst zu sein, ist ja nichts anderes als ein Leben nach Erwartungskatalog zu führen. Wie kann man dabei ein Gefühl für sich selbst bekommen, sich selbst kennenlernen? Immer den Chef, Bestimmer und Aggressoren raushängen zu lassen und grundsätzlich überlegen sein zu müssen – wirtschaftlich, körperlich, mental – das kann ja nur kaputt machen.

Sibylle Berg erzählt in der ersten Folge darüber, dass sie sich in ihrer Jugend wie ein Mann ohne Penis gefühlt habe, weil sie den Vorstellungen, die die Gesellschaft an Frauen hatte, nicht entsprochen habe. Gab es für dich Momente als Heranwachsender, in denen du an deiner Männlichkeit gezweifelt hast?

Erst durch meinen Podcast ist mir aufgefallen, dass ich mich überhaupt nicht als Mann kommuniziere. Das heißt nicht, dass ich nicht binär bin, ich verorte mich also nicht zwischen den Geschlechtern. Aber ich würde mich dennoch nie als "Mann" vorstellen. Die noch gültige, traditionelle Vorstellung von Männlichkeit verdirbt mir das, weil ich bewusst nicht diesem traditionellen Rollenbild entsprechen möchte.

Viele denken, dass Mannsein und Männlichkeit ein und dasselbe ist.
Fabian Hart

Das bedeutet aber nicht, dass ich keine als männlich definierte Attribute an mir anerkenne. Ich kann durchaus dominant sein und Raum einnehmen, aber eben nicht nur. Als Kind war das anders: Für mich war immer klar, dass ich ein Junge bin und irgendwann dann auch, dass ich ein schwuler Junge bin.

Du unterscheidest zwischen Mannsein und Männlichkeit. Kannst du erklären, wo genau der Unterschied ist?

Im Deutschen hat Männlichkeit definitiv ein Sprachproblem. Männlich gilt als Bezeichnung der geschlechtlichen Identität – zum Beispiel "Es ist ein Junge!" – und ist gleichzeitig Ausdruck typisch maskulinen Verhaltens und Aussehens – "ein extrem männliches Kinn". Es ist deshalb für viele schwer zu verstehen, weshalb ich männlich sein kann, was meine Geschlechtsidentität betrifft, und mich gleichzeitig nicht männlich verhalten muss.

Männlichkeit ist etwas Konstruiertes.
Fabian Hart

Viele denken, dass Mannsein und Männlichkeit ein und dasselbe ist, sie verwenden die Wörter synonym. "Mann" beschreibt das Geschlecht, dem du dich zugehörig fühlst. Aber Männlichkeit ist ein Sammelbegriff für alle Eigenschaften, die in unserer Gesellschaft dem Mann zugesprochen werden. Männlichkeit ist also etwas Konstruiertes, das mit verschiedenen Erwartungen verbunden ist, mit einem ganzen Erwartungskatalog, wie eine Art Knigge: Pumpen gehen, das Geld nach Hause bringen, Boss sein, ordentlich was aushalten können. Im Englischen ist das mit male und masculine klarer voneinander getrennt.

Haben wir dieses einseitige Männlichkeitsbild nicht allmählich überwunden?

Nein. Kino, TV und Werbung erzählen uns immer noch, wie "echte Kerle" auszusehen haben, wie sie denken und handeln. Männer wenden in den meisten Geschichten immer Gewalt an, selbst die Guten. Auch als Guter musst du dich als der Stärkere beweisen oder zumindest durchsetzen. Es ist ganz klar geregelt, welche Sportarten männlich sind und vor allem welche nicht, weil sich traditionelle Männlichkeit auch immer durch Ausgrenzung definiert. Uns wird beigebracht, welche Kleidung männlich ist und welche Farbe – wir bekommen auf Gender Reveal Parties oder Baby Showers die Blau-Schablone ja schon vor der Geburt übergestülpt.

Wir lernen, wie man möglichst männlich sitzt – bloß keine Beine überschlagen –, wie man männlich lacht – bloß nicht zu hysterisch – und wir lernen auch, wie man männlich trinkt. Du läufst als Mann ja schon Gefahr dich als unmännlich zu enttarnen, wenn du ein Glas Bier falsch hältst – oder keinen Alkohol magst.

Auf uns wartet eine neue Freiheit, wenn wir damit beginnen, traditionelle Geschlechterrollen zu überwinden.
Fabian Hart

Männer gelten auch immer noch als Ernährer – das zeigt sich schon an der ungleichen Bezahlung und den Führungspositionen. Im Jahr 2019 war der Anteil der Frauen in den Vorständen der 200 größten deutschen Unternehmen knapp 10 Prozent. Durch Corona wurde noch deutlicher, dass Frauen außerdem den größten Teil der Care-Arbeit leisten, viele davon unter- oder unbezahlt. Diese Ungleichheit hängt mit den stereotypen Rollen zusammen, die Männern und Frauen in der Gesellschaft zugeschrieben werden.

Warum meinst du, wäre es wichtig, das gesellschaftliche Konstrukt Männlichkeit zu überwinden?

Das klingt cheesy, aber ich denke, auf uns alle wartet eine neue Freiheit, wenn wir damit beginnen, traditionelle Geschlechterrollen und ihre Zuschreibungen zu überwinden, und uns trauen, die Person zu sein, die in uns schlummert.

Kannst du das präzisieren?

Würden mehr Männer die Angst überwinden, unmännlich zu wirken, dann kämen wir uns alle ein gutes Stück näher. Das ist auch grundlegend dafür, Diskriminierungen wie Frauenfeindlichkeit, Transphobie und Homophobie abzubauen. Das schafft mehr Gerechtigkeit für alle. Denn die Angst davor, unmännlich zu wirken, ist nichts anderes als die Angst davor, feminin zu wirken und sich selbst zum "schwachen Geschlecht" zu degradieren.

Es muss völlig normal werden als Mann auch Dinge zu tun, die bisher als unmännlich gelten. Ob das nun bedeutet, in Elternzeit zu gehen oder ins Ballett oder eine Therapie zu machen. Auch Männer müssen lernen, Gefühle zuzulassen und über Schwächen zu reden.

Glaubst du, Männer sind im Gefühlezulassen per se schlechter als Frauen?

Nein, nicht unbedingt. Frauen lernen aber viel eher sich mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen, es wird regelrecht von ihnen erwartet. Das ermöglicht ihnen aber auch schon seit Jahrzehnten, sich von ihrer gesellschaftlichen Rolle und der Zuschreibung des "schwachen Geschlechts" zu emanzipieren. Das wünsche ich mir für Männer auch, dass sie sich mit ihrer Rolle in der Gesellschaft und ihrer Identität kritisch auseinandersetzen.

Es muss völlig normal werden als Mann auch Dinge zu tun, die bisher als unmännlich gelten.
Fabian Hart

Besonders heterosexuellen cis-Männern ist es bisher ja in vielen Fällen noch nicht einmal möglich, fürsorglich miteinander umzugehen, ohne dass sie gleich ihre Männlichkeit gefährdet sehen. Wenn ich mir da den "Bro Hug" vorstelle – da weiß man häufig nicht, ob sich da zwei gerade schlagen oder gernhaben.

Ist das nicht aber auch eine sehr westlich geprägte Sicht auf das Verhalten von Männern untereinander? In anderen Kulturen ist es ja nicht besonders ungewöhnlich, wenn sich Männer umarmen oder gar zur Begrüßung auf die Wange küssen.

Je offener eine Gesellschaft, desto stärker sind auch alternative Männlichkeitsbilder sichtbar. Gerade in Großstädten wie Berlin oder Hamburg kann es sein, dass sich zwei Männer mit einem Wangenkuss begrüßen und du nicht weißt, ob die jetzt gay sind oder heterosexuell, ein Paar oder befreundet. Sollte ja auch niemanden interessieren, geht keinen etwas an.

Aber es gibt Kulturen, Länder und auch bei uns Orte, da ist Homosexualität tabuisiert oder verboten. Da kommt erst gar nicht die Vermutung auf, dass es sich bei dieser Art von Intimität um etwas Nicht-Freundschaftliches handeln könnte. Dafür muss man übrigens nicht aus Deutschland raus. Nur mal aus der Großstadt oder einem Stadtviertel. Oder mal eben über die Grenze nach Polen.

Du beschäftigst dich als Journalist auch mit dem Thema Mode. Würdest du sagen, Mode kann eine Möglichkeit sein, traditionelle Geschlechterrollen aufzubrechen?

Kleidung ist ein Ausdrucksmedium: Ich zeig dir, wer ich bin, bevor du mir sagst, wie ich zu sein habe. Aber ich möchte weder verkrampft versuchen, mir feminin besetzte Kleidungsstücke oder Stoffe anzueignen, noch auf Kleidungsstücke verzichten, nur weil sie vielleicht als besonders männlich gelesen werden. Ein Stoff hat kein Geschlecht. Weshalb soll Chiffon weiblich sein und Cord männlich? Ich nutze Kleidung genau so wie Worte. Eine Pose kann auch eine Position sein.

Und die wäre?

Ich kann auch in dem krassesten maskulinsten Outfit eine Pose einnehmen – etwa die Beine übereinanderschlagen, die Finger spreizen, die Haare zurückwerfen –, die man von einem Mann in unserer Gesellschaft nicht erwartet, und schon stelle ich ja das ganze Konzept Männlichkeit infrage. Ich habe kein Problem damit, feminin zu sein, das macht mich nicht weniger männlich.

Mit Zart Bleiben möchte ich genau das zur Sprache bringen. Ein Mann zu sein muss nicht bedeuten, immer stark zu sein, keinen Schmerz kennen zu dürfen, keine Tränen, immer das Wort zu führen, immer eine Antwort parat zu haben, voll auf Risiko zu gehen, Gewalt anzuwenden und immer wieder sein Geschlecht zu beweisen. Kein Mensch kann das aushalten. Kein Mensch ist nur stark. Wir sind alle Zartgeborene, der Rest ist antrainiert. Daran müssen wir uns manchmal erinnern.