Seit fast einem halben Jahr schlafe ich mit M. Wir waren gemeinsam im Urlaub und in der Notaufnahme. Vor seinen Augen pinkelte ich auf einen Schwangerschaftstest, und wenn wir Pläne fürs nächste Jahr machen, beziehen wir uns gegenseitig mit ein – klassischer Fall von Pärchenbildung. Normalerweise hätte ich schon vor Monaten am Telefon gejauchzt: "Mama, ich bin verliebt! Es wird ernst!" Stattdessen hoffte ich bislang darauf, dass sie und M. sich bei ihren seltenen Besuchen in unserer Stadt nicht zufällig über den Weg liefen. Das Problem: M.s Existenz ist in der Realität meiner Mutter nicht vorgesehen. Denn ich habe bereits einen Mann – und nicht vor, mich von ihm zu trennen.

Seit ein paar Jahren schon daten wir Menschen außerhalb unserer Beziehung. Mit manchen schlafen wir, in manche verlieben wir uns, an unserer Liebe zueinander ändert das nichts. So selbstverständlich das für uns auch ist, dass wir uns gegenseitig nicht einschränken – wann immer jemand Außenstehendes etwas davon mitbekommt, geht die gleiche Abwertungsschleife von vorne los. "Ihr seid auch nicht mehr glücklich miteinander, oder?", "Das wird doch nicht lange gut gehen", "Also, ich könnte das ja nicht". Unsere Zufriedenheit mit diesem Liebesmodell scheint kaum jemanden zu interessieren. Stattdessen gilt: Was der Bauer nicht kennt, kann er sich auch nicht vorstellen.

Lieber Gott, bitte mach, dass sie es niemals rausfinden

Während die Vertreter*innen meiner Generation an der monogamen Beziehung auf Lebenszeit vor allem aus romantisch-ideologischen Gründen festhalten, sind meine Eltern grundsätzlich konservativ eingestellt. Eine vermeintlich normale, das heißt gelungene, Beziehung ist in ihren Augen grundsätzlich heterosexuell, der Mann verdient die Kohle, die Frau ist das schöne Geschlecht. Doch während ich mich mit meinem Vater ohne mit der Wimper zu zucken über Homo-Ehe, Gender Pay Gap und Mannsweiber stritt, hätte ich mich am liebsten unter dem Tisch versteckt, wenn es um mein Beziehungsleben ging. In jedem anderen Aspekt meines Lebens setzte ich auf Ehrlichkeit, hier jedoch wurde ich zum Lügensack: den Urlaub verbrachte ich "mit Freunden"; der Typ, dessen Nachrichten ständig auf meinem Display erscheinen, ist "ein Kollege"; und wenn mein Mann abends ein Date hat, hat er "noch im Büro zu tun". Meine seltenen Gebete an Gott drehten sich darum, dass mein nicht besonders internetaffiner Vater niemals, bitte wirklich niemals, auf den Gedanken kommt, meinen Namen zu googeln. Denn in meinen Texten kommen verschiedenste Männernamen, sowie der Begriff Offene Beziehung viel zu oft vor, als dass ich meine Involviertheit leugnen könnte.

Ich kenne solche Geheimniskrämereien nicht nur von Menschen, die polyamor oder offen lieben, sondern auch aus Erzählungen von homosexuellen Bekannten: Jede*r in ihrem Umfeld wusste irgendwann Bescheid, nur ihren konservativen bis erzkatholischen Eltern konnten sie es einfach nicht sagen. Die Angst, Mutter und Vater zu enttäuschen und damit die Beziehung zu ihnen zu gefährden, war zu groß.

Mit Mama und Papa über die eigene Sexualität zu reden, ist alles andere als selbstverständlich

Meine Eltern würden mich wegen so ein bisschen Rumgevögel zwar nicht enterben, ersparen möchte ich mir die peinlichen Diskussionen darüber am liebsten trotzdem. Denn Sexualität ist vermutlich in den meisten Eltern-Kind-Beziehungen das Thema, das auf beiden Seiten für die rötesten Ohren sorgt. Schließlich stotterten uns unsere Eltern möglicherweise schon damals hilflos was von Bienchen und Blümchen vor. Heute klammern wir diese Peinlichkeiten der Einfachheit halber selber aus: Weder wollen wir so genau wissen, ob und was die beiden da hinter der Schlafzimmertür treiben, noch erzählen wir ihnen von unserem missglückten Sex-Date. Und das selbst, wenn uns unsere Eltern ansonsten sehr nahe stehen.

Ich habe mich damit abgefunden, dass meine Eltern und ich nicht über Sex sprechen. Und solange ich meinen promiskuitiven Aktivitäten im Schutz meiner weit von zu Hause entfernten Stadt nachgehen konnte, war das auch kein Problem. Nur jetzt, mit M., ist alles anders – keine bloße Bettgeschichte, sondern jemand, der in mein Leben gehört. Und so jemanden will ich nicht geheim halten. Ich will von unseren Reisen erzählen können und ihn nicht von meinem Geburtstag ausladen, nur, weil Mama und Papa auch beim Kerzenauspusten zugucken wollen. Auch wenn es hier nicht direkt um Sex ging, meine von der Norm abweichende Sexualität – immerhin vögele ich zwei Männer parallel – würde auf den Tisch müssen.

Das Gute ist: alle drei besagten schwulen Bekannten, die sich mit ihrem Outing schwer getan hatten, hatten über kurz oder lang ein Happy End mit ihren Eltern. Klar, war es entsetzlich, in entgleisende Gesichter zu blicken, Mütter schluchzen oder Väter den Schnaps rausholen zu sehen. In einer Familie dauerte es Monate, ehe die Gemüter sich wieder beruhigt hatten. Aber alle Elternpaare gaben am Ende zu, es immer schon geahnt zu haben. Eine motivierende Aussicht, wie ich fand. Und eine beängstigende.

"Macht doch, was ihr wollt"

Also erzählte ich letztens meiner Mutter von M., mit vollgeschissenen Hosen natürlich. Ihre Reaktion? Nicht anders als beim Rest der Welt – irgendwo zwischen "Ihr seid auch nicht mehr glücklich miteinander, oder?" und "Also, ich könnte das ja nicht". Damit konnte ich leben. Als nächstes war mein Vater dran. Er war wenig überrascht: "Denkst du, ich habe kein Google?" – "Warum hast du dann nie was gesagt?", fragte ich fassungslos. "Weil das nicht meine Sache ist. Macht doch, was ihr wollt." Nüchtern und unspektakulär. Damit war das Thema, wegen dem ich monatelang meine Laken nassgeschwitzt hatte, erledigt. Weiter ging's mit dem diesjährigen Tomatenanbau im Garten.

Wie ich meinen Geburtstag mit zwei Männern und Eltern zusammen feiern soll, ohne dass es zu peinlichen Situationen kommt, weiß ich trotzdem noch nicht. Vermutlich werde ich 200 Leute in unsere Wohnung quetschen, damit sich niemand von ihnen direkt begegnen muss. Das ist zwar ein bisschen feige, aber okay. Denn wer sagt schon, dass wir alle Schritte auf einmal gehen müssen?