Mehrere Zehntausend Menschen haben sich am Donnerstag in der Hauptstadt Minsk versammelt. Ein außergewöhnliches Bild in Belarus, einem Land, dessen Regierung schon mehr als zwei Jahrzehnte daran arbeitet, die Zivilbevölkerung zu schwächen und zu entpolitisieren – durch willkürliche Verhaftungen politischer Aktivist*innen, Medienpropaganda und Drohungen nach dem Schema "Sei still und du darfst deinen Job behalten."

Noch außergewöhnlicher erscheint das Bild, weil sich all die Menschen hier um drei Frauen versammelt haben: Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Weronika Zepkalo. Die drei gelten momentan als ernste Rival*innen des Diktators Alexander Lukaschenko bei den kommenden Präsident*innenschaftswahlen am 9. August. Ein Novum in einem Land, in dem das Wort Feminismus als Schimpfwort gilt.

"Ich bin Swetlana Tichanowskaja und es hat sich so ergeben, dass ich Präsidentschaftskandidatin der Republik Belarus bin", sagt die 37-Jährige auf der Kundgebung in Minsk. "So ergeben" heißt: Nicht sie, sondern ihr Mann, Sergej Tichanowskij, Geschäftsmann und Videoblogger, sollte ursprünglich auf dieser Bühne stehen. Doch er wurde im Mai verhaftet und konnte seine Kandidatur gar nicht erst einreichen. Um seinem Vorhaben eine zweite Chance zu geben, meldete Swetlana Tichanowskaja ihre eigene Kandidatur an.

Eine Wahlkampagne mit drei Gesichtern, die schnell zum Symbol des belarussischen Widerstandes geworden sind. Symbolisch sind auch ihre Gesten: Herz, Faust und Victoryzeichen.

Zwei weitere Frauen stehen an diesem Tag mit Tichanowskaja auf der Bühne: Maria Kolesnikowa ist die Leiterin des Wahlkampfteams von Viktor Babariko, dem ehemaligen Bankmanager, der kandidieren wollte – und deswegen jetzt ebenfalls in Haft sitzt. Er genoss große Unterstützung in der Bevölkerung und galt als gefährlichster Opponent von Lukaschenko.

Die Dritte ist Weronika Zepkalo. Sie gehört zum Wahlkampfteam ihres Mannes Waleri Zepkalo. Dieser scharte ebenfalls große Menschenmengen um sich und hätte in einem fairen Wahlkampf wohl gute Chancen gehabt, zu gewinnen. Doch zu den Wahlen wurde Waleri Zepkalo nicht zugelassen. Mittlerweile ist er mit den gemeinsamen Kindern ins Ausland geflohen. "Wir haben die Information bekommen, dass er festgenommen werden soll – aus unklaren Gründen", sagt Weronika Zepkalo in einem Interview der BBC. Auch die Kinder habe man ihnen als "sozial gefährlicher Familie" wegnehmen wollen.

"Wir glauben, wir können, wir werden gewinnen"

Neben Lukaschenko wurden von der Auswahlkommission nur Kandidat*innen zugelassen, die dem Großteil der Bevölkerung unbekannt sind. Und Swetlana Tichanowskaja – in Lukaschenkos Augen lediglich eine Frau, für die angeblich sowieso niemand seine*ihre Stimme abgeben würde.

Diese herablassende Unterschätzung könnte voreilig gewesen sein: Angeführt von Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo vereinen sich die Wahlkampfteams der nicht zugelassenen Kandidaten nun hinter Tichanowskaja. Eine Wahlkampagne mit drei Gesichtern, die schnell zum Symbol des belarussischen Widerstandes geworden sind. Symbolisch sind auch ihre Gesten: Herz, Faust und Victoryzeichen. Daraus entstand ein Motto: "Wir glauben, wir können, wir werden gewinnen."

Dieses Jahr ist alles anders. Wir sind die Mehrheit. Nach 26 Jahren sind die Menschen müde.
Maria Kolesnikowa

Der Wahlkampf 2020 ist alles andere als gewöhnlich für Belarus. Demokratie kennt das Land kaum. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 haben die Menschen nur für kurze Zeit Freiheit erleben dürfen. Bald traten wirtschaftliche Probleme und ihre Auswirkungen in den Vordergrund. 1994 kam Lukaschenko, damals Regimekritiker, an die Macht. Demokratisch. Und das war es dann schnell mit der Freiheit. Alternativen hat Lukaschenko schon bald nach seinem Antritt als Präsident aus dem Weg geräumt. Auch dank der Propaganda der Staatsmedien genoss er bis heute sogar tatsächlich die absolute Mehrheit der Stimmen. Fälschungen gab es nur für Schönheitszwecke: eine bessere Wahlbeteiligung, ein höherer Prozentsatz der Stimmen. "Doch dieses Jahr ist alles anders", ist sich Maria Kolesnikowa im Telefoninterview mit ze.tt sicher: "Wir sind die Mehrheit. Nach 26 Jahren sind die Menschen müde, immer nur das eine Bild zu sehen."

Tichanowskajas Ziele: Die Freilassung politischer Gefangener und Neuwahlen

Ein bekannter Ausspruch von Josef Stalin lautet: "Es ist egal, wie die Menschen abstimmen, wichtig ist, wie man die Stimmen zählt." Kritiker*innen sehen darin heute die Antwort auf die Frage, ob der Machtwechsel in Belarus tatsächlich gelingen kann. Zweifel sind nachvollziehbar. Viele unabhängige Bürger*innen werden in die lokalen Wahlkommissionen nicht aufgenommen. Die Begründung: "Keine Erfahrung". So werden die Stimmen auch dieses Jahr von den "Erfahrenen" ausgezählt. Unter diesen Bedingungen geht es nicht um den Kampf unterschiedlicher politischer Parteien – diese gibt es nicht so richtig in Belarus, entweder sind sie eine Farce oder sie versinken in der politischen Bedeutungslosigkeit.

Das Wahlprogramm von Swetlana Tichanowskaja hat nur zwei Punkte: Politische Gefangene freizulassen und innerhalb von sechs Monaten nach ihrem Sieg neue Wahlen durchzuführen, transparent und demokratisch. "Wie kann man beispielsweise über Schulreformen sprechen, wenn Lehrer*innen momentan gezwungen werden, Unterschriften zu fälschen?", sagt Maria Kolesnikowa am Telefon. "Neue, faire Wahlen sind unser Ziel Nummer eins. Und dafür müssen viele Abläufe so organisiert werden, wie sie in Belarus nie organisiert wurden. Das kann sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, bis zu einem halben Jahr."

Um Wahlfälschungen entgegenzuwirken, rufen die drei Frauen dazu auf, nicht im Voraus abzustimmen, sondern nur am 9. August. Um sichtbar zu sein, sollen alle Gegner*innen des Regimes am Tag der Wahlen ein weißes Armband tragen.

Ich bin müde, zu dulden, ich bin müde, zu schweigen.
Swetlana Tichanowskaja

Zehntausende Menschen kamen am Donnerstag in Minsk zu der Kundgebung von Swetlana Tichanowskaja. Dabei handelt es sich um keine homogene Gruppe, sondern um Menschen verschiedenen Geschlechts, unterschiedlichen Alters, mit verschiedenen Berufen und politischen Ansichten. Die einen schwenken die offizielle rot-grüne Flagge von Belarus, die erst mit Lukaschenko etabliert wurde, die anderen die rot-weiß-rote, die historische Flagge des Landes, die unter Lukaschenko als oppositionell gesehen wird und deren Nutzung zur Festnahme führen kann.

Auf die Frage, wie es ihnen gelungen ist, so viel Unterstützung in einer ziemlich patriarchalen Gesellschaft zu erzielen, antwortet Maria Kolesnikowa: "Die meisten wissen einfach noch nicht, dass sie Feministinnen und Feministen sind, sowohl Frauen als auch Männer. Aber das, was sie machen, ist Feminismus. Sie haben nur Angst, sich das einzugestehen. Nun werden wir wohl auch in diesem Sinne Bildungsarbeit leisten müssen."

Keine der drei Kämpferinnen will Präsidentin sein, am wenigsten die Kandidatin Tichanowskaja selbst. "Ich bin keine Politikerin und ich brauche keine Macht, aber mein Mann ist hinter Gittern. Ich bin müde, zu dulden, ich bin müde, zu schweigen", sagt sie mit vor Aufregung zitternder Stimme auf der Bühne. Die Menschen rufen: "Wir glauben, wir können, wir werden gewinnen!" Und in den umliegenden Wohnbezirken dösen die Einsatzkräfte in den Gefängnistransportern.