Am Morgen nach Weihnachten bekommt Andrew Anson einen Anruf seines Arztes. Sein HIV-Test sei positiv ausgefallen. Anson ist geschockt. Ein paar Tage zuvor hatte er mit einem Mann geschlafen – ohne Kondom. Panisch war er zu seinem Doktor gefahren, der ihm sofort PEP verordnete. PEP steht für Postexpositionsprophylaxe. Durch PEP kann eine Ansteckung mit dem Virus nach einem Risikokontakt noch verhindert werden.

Trotz PEP fiel Ansons erster HIV-Test positiv aus. Das passiert recht häufig, deswegen lässt Ansons von einem anderen Arzt einen zweiten Test machen. Die 20 Minuten bis zum Ergebnis fühlen sich wie die längsten seines Lebens an. Der Test ist negativ. Auch ein dritter Test, den Anson drei Monate später macht, fällt negativ aus. Anson ist gesund.

Was ist PrEP?

Ansons Arzt empfahl ihm damals eine PrEP-Behandlung. PrEP steht für Präexpositionsprophylaxe. Während PEP also der "Pille danach" entspricht, nimmt man PrEP vor dem Sex – als gesunder Mensch. Das derzeit meistverbreitete Mittel für eine PrEP-Behandlung trägt den Namen Truvada.

In den Industrienationen besitzt der Hersteller Gilead das Patent auf Truvada. Für die HIV-Prävention mit dem Medikament empfiehlt er, täglich zur gleichen Zeit eine Pille zu nehmen. Das soll vor einer HIV-Infektion schützen. In Risikogruppen soll sich dadurch die Ansteckungsgefahr statistisch um 90 bis 99% reduzieren. Dieser Wert schwankt von Statistik zu Statistik etwas, ist aber enorm. Truvada wäre somit sicherer als Kondome, die zu durchschnittlich 95 Prozent vor einer Infektion schützen.

So funktioniert Truvada

Die Pille besteht aus zwei Wirkstoffen: Emtricitabin und Tenofovir. Wenn sich das HI-Virus im Körper eines Menschen befindet, muss er seine Erbsubstanz ständig in die menschlichen Zellen kopieren. Das geschieht durch das Enzym Reverse Transkriptase. Truvada blockiert dieses Enzym, so dass HIV seine Erbinformationen gar nicht erst in die menschliche Zelle kopieren kann. Eine Ausbreitung im Körper wird dadurch unmöglich.

Natürlich profitieren auch Frauen und heterosexuelle Männer bei korrekter Anwendung von PrEP. Aber als schwuler Mann gehört Anson zu einer Risikogruppe, weil sich HIV durch die Analschleimhaut schneller überträgt als über die Vaginalschleimhaut.

In den drei Jahren, in denen Andrew Anson das Medikament bisher eingenommen hat, zahlte er dafür zwischen 15 und 100 US-Dollar im Monat. Die Versicherung übernimmt die Kosten.

Zulassung in Frankreich und Deutschland

In Frankreich hat die Gesundheitsministerin Marisol Touraine vor kurzem eine vorübergehende Zulassung für PrEP erteilt. Dort wird PrEP als Mittel zur Prävention gefeiert.

In Deutschland ist Truvada bereits ein Bestandteil der HIV- Therapie und bei der PEP. Außerdem gibt es das Medikament im sogenannten Off-Label-Use, also auf Privatrezept. Eine Monatspackung kostet ungefähr 820 Euro.

Damit Truvada auch als PrEP verwendet werden kann, ist eine erweiterte Zulassung notwendig. Hierfür hat der Hersteller Gilead kürzlich einen Antrag bei der europäischen Arzneimittelagentur (EMA) eingereicht. Diese prüft nun, ob sie PrEP in Europa zulässt oder nicht. Für den weiteren Prozess in Deutschland sind dann das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) verantwortlich.

Studienlage und Nebenwirkungen

Die Wirksamkeit von PrEP ist durch zahlreiche Studien belegt. Für kaum ein anderes Medikament gibt es eine so umfangreiche Studienlage für so viele unterschiedliche Zielgruppen. Eine der Studien für schwule Männer ist die PROUD Studie (2015), die in Großbritannien mit 545 Männern mit sehr hohem Ansteckungsrisiko durchgeführt wurde. Die Teilnehmer nahmen täglich Truvada ein. Die Risikoreduktion betrug 86 Prozent. Das bedeutet: Von 100 theoretisch möglichen Infektionen wurden 86 durch PrEP gestoppt.

Bei einer weiteren Studie, IPERGAY (2015), die an schwulen Männern in Frankreich durchgeführt wurde, untersuchten Forscher die anlassbezogene PrEP. Truvada sollte nur eingenommen werden, wenn auch ein Risiko für eine HIV-Infektion besteht. Das würde die Therapiekosten deutlich senken. Auch in der IPERGAY Studie betrug die Risikoreduktion 86%.

Dr. Heiko Jessen betreibt mit seinem Bruder Dr. Arne Jessen eine Praxis in Berlin Schöneberg. In der Schwulenszene ist seine Praxis bekannt, viele seiner Patienten sind HIV-positiv oder gefährdet. Sollte Truvada in Deutschland zugelassen werden, empfiehlt Jessen die tägliche Einnahme nach dem Schema der PROUD-Studie. Es sei nicht möglich, seinen Sex so gut im Voraus zu planen. Außerdem ist das Einnahmeschema von Truvada, wenn es für einen bestimmten Anlass genommen wird, kompliziert: Minimum zwei bis maximal 24 Stunden vor dem Sex müssen zwei Pillen genommen werden. Danach jeweils nach 24 Stunden wieder eine Pille. Dieses Schema muss bis zwei Einnahmen nach dem Sex eingehalten werden. Leicht könnte es zu Fehlern bei der Einnahme kommen.Die Nebenwirkungen von PrEP sind überschaubar. Während der Einstellphase kann es zu Übelkeit, Schwächegefühl und Kopfschmerzen kommen. In seltenen Fällen kann PrEP die Niere schädigen. Deshalb ist es wichtig, PrEP reguliert anzubieten und Patienten regelmäßig auf Nebenwirkungen zu testen.

Die Folgen unregulierter PrEP

Solange PrEP nicht reguliert und zu günstigen Preisen auf dem deutschen Markt angeboten wird, beschaffen sich die Konsumenten das Medikament über Umwege. Nicholas Feustel ist PrEP-Aktivist und Dokumentarfilmer für Gesundheits- und Menschenrechtsfilme. Er sagt: "Die Leute werden sich PrEP zum Beispiel auf dem Schwarzmarkt besorgen. Eine unregulierte PrEP bedeutet, dass Menschen weder auf Nebenwirkungen untersucht werden noch auf andere sexuell übertragbare Infektionen (STI)."

Feustel selbst beschafft sich sein PrEP legal mit einigem Aufwand. Er bestellt sich ein Generikum des indischen Herstellers Cipla und lässt es sich nach England schicken. PrEP kann dort zwar auch nur privat verschrieben werden. Anders als in Deutschland ist es dort aber legal, sich für den Eigenbedarf Generika von ausländischen Online-Apotheken zu bestellen. Von England aus können Generika dann wiederum legal für den Eigenbedarf im Reisegepäck mitgeführt werden.

Wo ist der Unterschied zum Kondom?

Warum diese Umstände? Warum sind Kondome nicht genug? Für den Aktivisten Feustel ist die Antwort klar: Die Tablette verschaffe ihm "piece of mind". Das geht nicht nur ihm so. Durch Truvada können schwule Männer Sex ohne Kondom erleben, ohne dabei Angst vor einer HIV-Infektion haben zu müssen. Bei korrekter Einnahme ist es sicherer als ein Kondom. Hinzu kommt, dass viele Männer keinen Sex mit Kondomen haben können, unter anderem weil sie keine Erektion bekommen, wenn sie eines benutzen. Laut Dr. Jessen liegt die Zahl dieser Männer bei ungefähr 30 Prozent.

Was ist mit anderen sexuell übertragbaren Infektionen? Ärztlich verordnetes PrEP gibt es in den USA nur, wenn alle drei Monate umfangreiche Krankheitstests gemacht werden. Durch frühstmögliche Behandlung sinkt die Ansteckungsgefahr. Ähnlich könnte es in Deutschland auch laufen. PrEP ist also insgesamt eine Public Health-Maßnahme.

Eine HIV-Prävention mit Truvada hat weitere Vorteile: Das Medikament ermöglicht, dass sich Menschen schon morgens beim Frühstück schützen können, wenn sie anders als abends auf der Party noch bei klarem Verstand sind. Außerdem schützt PrEP den passiven Partner – denn der hat das größere Risiko. Es dreht also auch ein Machtverhältnis um. In diesem – nur in diesem – Punkt lässt sich PrEP mit der Anti-Baby-Pille vergleichen.

Moralische Bedenken

Würde Truvada nicht dazu führen, dass mehr schwule Menschen ungeschützten Verkehr haben? Schließlich wird Truvada Menschen mit "häufig wechselndem Geschlechtspartner" empfohlen, denen es schwer fällt, ein Kondom zu benutzen. "Häufig wechselnd" bedeutet: mehr als zwei Geschlechtspartner in den letzten sechs Monaten. Das triff auf viele schwule Singles zu. Kritiker können das moralisch verwerflich finden. Über Slut-Shaming muss unsere Gesellschaft allerdings sowieso hinauskommen.

Das nächste Gegenargument lautet: Warum soll die Solidargemeinschaft dafür zahlen, dass wir ohne Kondom Analsex haben? Ob sich ein Medikament wirtschaftlich rechnet, wird durch die "Number needed to treat" berechnet. Diese Zahl gibt an, wie vielen Menschen man ein Medikament anbieten muss, um eine einzige Infektion – und die Kosten der damit verbundenen Therapie – zu verhindern. In der PrEP-Behandlung liegt diese Zahl laut Dr. Jessen bei genauer Einnahme bei 1:10 oder 1:11. Das ist sensationell wenig – beispielsweise muss das Herz-Kreislauf Medikament Clopidrogel 333 Menschen verabreicht werden, um einen Herzinfarkt zu verhindern.

In Deutschland kostet eine HIV-Therapie durchschnittlich 600.000 Euro, durch weiter entwickelte Therapieformen wie zum Beispiel Gentherapie wird sie wahrscheinlich sogar nochmal deutlich teurer. "In Zukunft sind wir da in Deutschland sicherlich leicht bei einer Millionen Euro jährlich", sagt Dr. Jessen. "Dann wird sich die PrEP auch wirtschaftlich lohnen."

Was möchte eine Gesellschaft sich leisten, um die Zahlen einer HIV-Infektion zu senken? In Deutschland bleibt die Zahl der Neuinfektionen weitgehend konstant. Ein Indiz dafür, dass die bisherige Politik von Prävention und frühstmöglicher Therapie an ihre Grenzen stößt. Jessen wählt deutliche Worte: "Es ist überhaupt nicht einzusehen, wieso unser System für Alkoholiker und Raucher zahlt, für PrEP aber nicht. Selbst für Ski-Unfälle zahlt die Allgemeinheit, dabei haben Ski-Fahrer ja Geld, sonst würden sie nicht Ski fahren. Wieso soll eine befreite Sexualität nicht auch dazugehören?"

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