Es war eine kleine Nachricht, aber sie platzte mitten in die Freude über die Ehe für alle: Anfang August nannte das Innenministerium die Anzahl der Straftaten im ersten Halbjahr 2017, die mit sexueller Orientierung zusammenhingen. Mit 130 Fällen waren das 15 Prozent mehr als im 2016 – und damals schon hatte man einen Anstieg homo- und transphober Straftaten festgestellt. Auch Transphobie fällt statistisch in diesen Bereich, obwohl trans* keine sexuelle Orientierung ist.

Gerade mal einen Monat zuvor war die Ehe für alle im Bundestag verabschiedet worden. Damit können gleichgeschlechtliche Paare seit Oktober offiziell heiraten – ihre Lebenspartnerschaften sind der Hetero-Ehe in allem gleichgestellt. Denselben Schritt machten 2017 unter anderem auch Australien, Malta, Finnland und – mit Einschränkungen - Slowenien. Die Norwegische Staatskirche erlaubte zudem gleichgeschlechtliche Eheschließungen, und Taiwan kündigte als erstes Land in Asien an, in den nächsten Jahren ein entsprechendes Gesetz auszuarbeiten. Sogar der autoritäre und unberechenbare philippinische Präsident Rodrigo Duterte sagte kürzlich, er unterstütze die Ehe für alle. In Österreich setzte das Verfassungsgericht die Ehe für alle durch.

Doch während auf rechtlicher Ebene viel in Sachen Gleichstellung vorangeht, beunruhigt zugleich der Anstieg der Straftaten gegen LGBTI.

Nun muss man mit solchen Zahlen vorsichtig sein. Besonders bei Gewalt im Privatbereich ist die Dunkelziffer hoch, weil viele Opfer die Angriffe herunterspielen oder aus Scham nicht anzeigen. Es könnte also auch einfach sein, dass inzwischen mehr Menschen das Selbstbewusstsein haben, bei homo- oder transfeindlichen Vorfällen zur Polizei zu gehen.

Identität ein Luxusproblem?

Trotzdem muss man die Zahlen im Auge behalten. Es ist nicht unüblich, dass die Gewalt gegen Minderheiten zunimmt, wenn diese sichtbarer werden und sich Rechte erkämpfen. Auch nicht vergessen sollte man, dass rechtspopulistische und nationalistische Kräfte in Deutschland stärker werden. Und auch wenn rechte Politker*innen sich heute seltener explizit homo- oder transfeindlich äußern: Die Veränderungen in der politischen Landschaft, zum Beispiel der Einzug der AfD in den Bundestag, sorgen zumindest indirekt für queerfeindliche Stimmung.

So schreibt der SPD-Außenminister und beinahe-Kanzlerkandidat Sigmar Gabriel im Spiegel, seine Partei habe sich zu viel für die Ehe für alle gefeiert, dagegen zu wenig für Mindestlöhne oder Rentenerhöhungen. In seinem Gastbeitrag mit dem Titel Sehnsucht nach Heimatschreibt Gabriel: "Ein Blick auf die Entwicklung der Demokraten in den USA zeigt, wie gefährlich diese Konzentration auf die Themen der Postmoderne sein kann. Wer die Arbeiter des Rust Belt verliert, dem werden die Hipster in Kalifornien auch nicht mehr helfen."

Dieses Gegeneinander-Ausspielen von harter Überlebenspolitik auf der einen und angeblich softer, Lifestyle-Identitätspolitik auf der anderen Seite ist nicht neu – und auch nicht erst seit gestern falsch. Denn Bürger*innenrechte sind nicht nur was für Hipster. Das zu behaupten ist vor allem einer Strategie der Rechten - die jetzt offenbar von der politischen Mitte aufgegriffen wird.

Aber 2017 war nicht nur das Jahr der Ehe für alle und rechtspopulistischer Erfolge. Es war auch nicht nur das Jahr, in dem die Supermärkte mit Einhorn-Produkten überschwemmt wurden (was in diesem Jahresrückblick zumindest eine lobende Erwähnung verdient hat) oder in dem die Orange ist the New Black-Stars Samira Wiley und Lauren Morelli geheiratet haben (kreisch!). Es war auch das Jahr der Geschlechtsidentität.

Zwischentöne beim Geschlecht

Im November entschied das Bundesverfassungsgericht, dass es nicht nur männlich und weiblich geben darf. Verfassungsbeschwerde hatte eine Interperson eingelegt, die sich in der Öffentlichkeit Vanja nennt. Vanja war zuvor mit der Forderung gescheitert, im Personenstandsregister den Eintrag "inter/divers" zu bekommen. Zwar gab es schon die Möglichkeit, bei Kindern den Geschlechtseintrag nach der Geburt leer zu lassen, die Richter*innen in Karlsruhe entschieden aber, es brauche ein drittes Geschlecht – oder aber der Eintrag müsse komplett abgeschafft werden. Der Gesetzgeber muss diese Entscheidung nun umsetzen. Mehrere hundert Gesetze könnten betroffen sein, da in ihnen konkret auf Geschlecht Bezug genommen wird.

Was der Entscheid allerdings nicht automatisch mit sich bringt: Ein Verbot sogenannter geschlechtsangleichender Operationen, die immer noch an Säuglingen und Kindern vorgenommen werden. Davon betroffen sind pro Jahr etwa 1.700 Kinder, wie Genderforscher*innen der Humboldt-Universität Berlin 2016 erhoben haben. Ein Operationsverbot existiert bereits in Malta.

Aktivist*innen versuchen, geschlechtliche Zwischentöne im Recht zu verankern und haben damit Erfolg – allerdings nicht immer. Wenige Wochen nach dem Entscheid für ein drittes Geschlecht wies das Verfassungsgericht eine Beschwerde der Informatikerin Nicole Faerber gegen das Transsexuellengesetz zurück. Faerber hatte gefordert, dass die Pflicht zur psychologischen Begutachtung abgeschafft werden soll. Dieser müssen sich alle Trans*menschen unterziehen, wenn sie ihren Geschlechtseintrag ändern wollen. Viele empfinden das als demütigend und als Angriff auf ihre Würde. Das Gericht argumentierte allerdings: Da die Beschwerdeführerin Faerber sich bisher geweigert hatte, an einer Begutachtung teilzunehmen, könne sie auch keine Verletzung ihrer Menschenwürde geltend machen.

Ungleich gleich

Wenn es also darum geht, wie gut queere Menschen an der Gesellschaft teilhaben können, gibt es immer größere Unterschiede zwischen L, G, B, T und I. Mehr und mehr werden diejenigen queeren Identitäten und Lebensweisen anerkannt, die sich am stärksten an der Hetero-Kleinfamilie orientieren. Sprich: schwule und lesbische Paare mit Kindern und eindeutigen Geschlechtern. Für alle anderen ist es nach wie vor schwer, Verständnis und Anerkennung zu bekommen.

Und noch ein Detail macht einen entscheidenden Unterschied: welche Staatsbürgerschaft man hat.

Gerade sorgt der Fall einer Familie aus Leipzig für Aufsehen, die nach Tunesien abgeschoben werden soll, obwohl sie Verfolgung aufgrund sexueller Orientierung geltend gemacht hat. Das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge sieht in der Tatsache, dass der Familienvater bi ist und deshalb in seinem Herkunftsland um seine Sicherheit fürchtet, keinen dringenden Grund, die Abschiebung auszusetzen. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Monika Lazar forderte in dieser Woche, den Fall erneut zu prüfen. Tunesien gehört zu den nordafrikanischen Ländern, die die große Koalition eigentlich im März zu "sicheren Herkunftsstaaten" erklären wollte. Sie scheiterte am Bundesrat. Allerdings gilt, ob sicher oder nicht: Queere Geflüchtete tragen häufig selbst die Beweislast, dass ihnen tatsächlich Gewalt oder Verfolgung droht, wenn sie in ihre Herkunftsländer zurückkehren.

Fazit: 2017 kriegt ein Fleißbienchen

In den vergangenen zwölf Monaten hat es einige Fortschritte für queere Menschen gegeben, die sich noch vor wenigen Jahren kaum jemand wirklich hätte vorstellen können. Gleichzeitig sind diejenigen, die die Vater-Mutter-Kind-Norm verteidigen und alles andere als "Genderwahnsinn" beschimpfen, kein bisschen weniger geworden. Stattdessen setzt sich immer mehr die Vorstellung durch, dass LGBTI-Themen Luxusprobleme seien, mit denen man sich zu viel befasst habe – weswegen der kleine Mann sich von der etablierten Politik abgewendet habe. Inwiefern sich diese Idee in die politischen Programme übersetzt, hängt noch davon ab, wer demnächst regieren wird.