Hannah* ist 29 Jahre alt, sie hat Sport auf Lehramt studiert. Auf ihrem Whatsapp-Profilbild sieht man, wie sie auf einem Berg steht und über die weite Landschaft blickt. Sie wirkt fit, völlig gesund. Doch sie ist es nicht. Hannahs Tag beginnt mit einer halben Stunde auf der Toilette. Bleibt sie nicht in dieser Routine, bedeutet das Schmerzen.

Sie hat fast immer Durchfall, fast immer Luft im Bauch. Hannah hat das Reizdarmsyndrom. "Mittlerweile erzähle ich es emotionsloser als am Anfang", sagt sie. Dabei hat sie eine lange, frustrierende Zeit der Ursachensuche hinter sich. Sie war bei sehr vielen Ärzt*innen, weil ihr niemand so richtig helfen konnte.

Den meisten ist schon Magenknurren unangenehm

Dabei ist Hannahs Krankheit nicht selten. Nach Zahlen aus dem Arztreport 2019 (pdf) der Krankenkasse Barmer wurde die Krankheit im Jahr 2017 bei mehr als einer Million Menschen diagnostiziert. Und das sind nur die, die sich getraut haben, einer*m Mediziner*in von ihren Beschwerden zu erzählen. Die Dunkelziffer könnte zehnmal so hoch sein, heißt es in dem Report. Das wären bis zu 16 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. An der Krankheit leiden ist ganz wörtlich gemeint, denn sie schränkt das Leben der Betroffenen stark ein.

Zu den typischen Beschwerden zählen Bauchschmerzen, Durchfall, Verstopfung und Blähungen, die länger und wiederkehrend auftreten. Von einem Reizdarmsyndrom spricht man dann, wenn für diese Beschwerden weder Infekte, Entzündungen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten verantwortlich gemacht werden können. Frauen sind dem Bericht zufolge häufiger betroffen als Männer. Über die Ursachen heißt es: "Sie sind bislang unklar."

Auch Hannah, die ihre Geschichte schon so oft erzählt hat, sucht am Telefon nach Worten. Luft im Bauch. Kugelrunder Bauch. Auf die Toilette gehen. Umschreibungen. Den meisten Menschen ist es schließlich schon unangenehm, wenn im Büro der Magen laut knurrt. Aber wenn Ärzt*innen helfen sollen, muss man sehr genau beschreiben, wo das Problem liegt.

Zuerst dachte sie an einen Magen-Darm-Infekt

Laut voreinander zu pupsen und zu rülpsen, ist ein Tabu – welches das Miteinander allerdings auch gesitteter macht. Aber für Hannah führt dieses Tabu dazu, dass sie oft Schmerzen hat. Ihr Bauch krampft. Die Luft kann nicht raus. "Wenn ich unterwegs bin, muss immer ein Klo in der Nähe sein", sagt sie. Nach dem Mittagessen braucht sie auf jeden Fall eine Toilette. Vier- oder fünfmal zwischen Mittag- und Abendessen, an schlechten Tagen danach noch drei- oder viermal. Geht das nicht, weil kein Klo in der Nähe ist, oder sie ihren Kolleg*innen nicht erklären kann, warum sie darauf so lange braucht, dann krampfen sich ihre Innereien zusammen. Es gluckert, ihr Bauch wird eine Riesenkugel.

Man hat das Gefühl, es hört nie wieder auf.
Hannah

Angefangen hat es vor viereinhalb Jahren. Hannah war mit ihrem Freund im Urlaub und fühlte sich auf einmal nicht gut. Ein Magen-Darm-Infekt, dachte sie. Zwei Wochen später hatte Hannah immer noch Durchfall. "Das ist dann einfach nicht mehr weggegangen", sagt sie. Durchfall gehört jetzt zu ihrem Alltag. "Man hat irgendwann das Gefühl, es hört nie wieder auf. So kann man doch nicht sein Leben verbringen."

Nach dem Urlaub geht sie zu einem Arzt, der eine Magenspiegelung und einen Bluttest mit ihr macht. Alles ist unauffällig. "Ich wusste zu dem Zeitpunkt schon gar nicht mehr, was ich essen soll", sagt sie. Auf alles reagiert ihr Darm gereizt. Sie nimmt sehr stark ab. Bald wiegt sie bei 1,64 Metern nur noch 42 Kilo. "Das war wirklich nicht mehr schön." Immerhin hat sie ihren Freund, mit dem sie damals seit zwei Jahren zusammen ist und über ihre Beschwerden reden kann.

Keine Untersuchung führte zu einem Ergebnis

Bei anderen ist das schwieriger. "Man geht nicht gerne zu seiner*m Uni-Dozent*in und sagt: Ich sitze den halben Vormittag auf dem Klo und kann deshalb nicht am Seminar teilnehmen", sagt Hannah. Zwischendurch geht es ihr so schlecht, dass sie "nur noch halb lebendig" im Hörsaal auf dem Stuhl hängt. Einige ihrer Freund*innen glauben ihr nicht. "Ich habe viele Freund*innen verloren", sagt sie. Einige ihrer Kommiliton*innen glauben, sie simuliert nur, um sich um Prüfungen zu drücken. Ins Kino gehen ist schwierig. Abends Essengehen ist schwierig. Konzerte sind schwierig. Immer wieder sagt Hannah Verabredungen spontan ab.

Sie lässt sich auf alle möglichen Nahrungsmittelunverträglichkeiten testen. Sie lässt eine Stuhlanalyse machen. Nichts führt zu einem Ergebnis. Der Darm ist ein kompliziertes Organ. Viel zu wenig weiß die Medizin bisher über ihn. Ursachen und Verlauf des Reizdarmsyndroms sind kaum bekannt. Hannah nimmt verschiedene Medikamente, geht zu einer Heilpraktikerin, nimmt Probiotika. Bei einer Darmspiegelung finden die Ärzt*innen heraus: alles in Ordnung. Gemüse isst sie jetzt nur noch fein püriert aus Babygläschen. Knoblauch ist schlecht, Bohnen, scharfes Essen, Sauerkraut, Süßungsmittel, Geschmacksverstärker und Obst auch. Was unser Darm jeden Tag leistet, merken wir erst, wenn er seine Arbeit nicht mehr richtig tut. "Meistens kann ich gar nicht genau sagen, welches Essen schuld war, wenn es mir mies geht", sagt Hannah.

Ich habe viele Freund*innen verloren.
Hannah

Immerhin nimmt sie mit der Zeit wieder etwas an Gewicht zu. Sie schließt ihr Studium ab und fängt ihr Referendariat an. Aber dann merkt sie: Vollzeit arbeiten, das schafft sie nicht. Sie bricht das Referendariat ab. Sie schläft schlecht wegen der Schmerzen und ist tagsüber schlecht gelaunt. "Das war eine schwierige Zeit", erinnert sie sich. Die Ärzt*innen glauben zu dem Zeitpunkt, dass die Ursache psychologisch ist. Auch dem Ärztereport 2019 zufolge tritt das Reizdarmsyndrom gehäuft im Zusammenhang mit somatoformen und psychischen Störungen auf. Hannah geht zu einer Psychotherapeutin. "Aber ich wusste gar nicht, worüber ich mit ihr reden soll." Bis auf die Verdauungsprobleme geht es ihr gut. Sie ist glücklich. Sie plant die Hochzeit mit ihrem Freund.

Ärzt*innen können kaum helfen

"Ich habe mich allein gelassen gefühlt", erinnert Hannah sich. Kein*e Ärzt*in kann ihr helfen, die Krankheit loszuwerden. Mit der Zeit findet sie heraus, wie es ihr zumindest nicht ganz so schlecht geht. Was sie essen kann. Sie nimmt eine Vertretungsstelle an einer Schule an. Jetzt arbeitet sie nur halbtags. "Wenn ich weiß: Nach vier Schulstunden war's das für heute, dann geht es." Eine neue Hausärztin hilft ihr: Sie bekommt einen Schwerbehindertenausweis, der ihr einen Grad der Behinderung von 50 Prozent bescheinigt. Dank dem kann sie ihr Referendariat jetzt doch machen, in Teilzeit. Im nächsten Frühjahr will sie es versuchen.

Was die Ursache für den Durchfall und die Blähungen sein könnte, weiß sie jetzt auch: Bei einem MRT stellt sich heraus, dass ihre Darmmuskulatur nicht richtig zu arbeiten scheint. Aber warum das so ist? "Das weiß niemand."

Damit das Thema Reizdarm bekannter wird, hat sie sich bei einem Verein für Betroffene gemeldet, der sie als Interviewpartnerin an Medien vermittelt. "Es fühlt sich gut an, dass mittlerweile alle meine Freund*innen Bescheid wissen", sagt Hannah. Ihr Chef weiß immerhin von dem Schwerbehindertenausweis. Einigen Kolleg*innen hat sie von dem Grund für den Ausweis erzählt. "Die haben alle relativ gut reagiert." Eine Kollegin hat ihr daraufhin erzählt, dass sie ähnliche Probleme hat. Hannah findet es schön, zu wissen, dass sie nicht die Einzige ist.

* Name geändert