Sarah Mardini sitzt in der Küche ihrer WG im Norden Berlins. Die Zigarette hat sie unten vor der Haustür aufgeraucht, denn in der Wohnung ist Rauchen verboten. Genauso wie laute Musik bei offenen Fenstern. So steht es auf den kleinen roten Schildern, die an den Wänden der Wohnung angebracht sind. Die Altbau-Wohnung ist Teil eines Wohnheims und wurde Sarah von der Universität gestellt, die sie besucht. Darum die vielen Regeln.

Doch diese Vorschriften sind nichts im Vergleich zu dem Ort, an dem Sarah im letzten Jahr leben musste. Von Ende August bis Anfang Dezember saß sie in Griechenland im Gefängnis. Die Vorwürfe: Spionage, Geldwäsche und Menschenschmuggel.

Die 23-Jährige spricht ruhig, wenn sie von den Anschuldigungen erzählt, von ihrer Zeit im Gefängnis. Manchmal, nur kurz, wird ihr Tonfall zynisch. Dann merkt man, wie ungerecht sie findet, was ihr widerfahren ist. Doch die meiste Zeit wählt sie ihre Worte sorgfältig aus. Nach der Hälfte des Gesprächs kommt ihre Mitbewohnerin in die Küche und schmiert sich ein Brot. Sarah lässt sich davon nicht stören. Die Menschen in ihrem Leben kennen ihre Geschichte. Sie hat sie in den letzten Monaten immer wieder erzählt. Für sie scheint das hier nur ein weiterer Termin zu sein, um zu zeigen, was passieren kann, wenn man sich in einem europäischen Land für Geflüchtete einsetzt.

Von Lesbos nach Berlin

Sarah Mardini kam 2015 gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Yusra aus Syrien nach Deutschland. Sie waren zu dem Zeitpunkt 20 und 17 Jahre alt. Wie viele andere Menschen hatten die Schwestern versucht, mit einem Schlauchboot von der türkischen Küste nach Europa zu gelangen. Als der Motor des Boots ausfiel, sprangen die jungen Frauen, beide Leistungsschwimmerinnen, ins Wasser und zogen das Boot mit 18 Personen mehr als drei Stunden Richtung Ufer. An die Küste von Lesbos.

Die Geschichte hat die Schwestern berühmt gemacht. Über die Balkanroute gelangten sie nach Deutschland, heute leben auch ihre Eltern und die jüngste Schwester in Berlin. Yusra Mardini war ein Jahr später als Teil des Refugee Olympic Athletes Teams bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro.

Sarah erhielt ein Stipendium und begann in Berlin Politik und Kunst zu studieren. Sie zog in die Wohnung mit den vielen roten Schildern. Sarah weiß, wie wichtig es ist, dass man Menschen hat, die einem beim Ankommen helfen. Sie engagiert sich, erst beim Nachbarschaftsnetzwerk Moabit hilft, dann ab 2016 bei ERCI, einer Nonprofit-Organisation, die auf Lesbos humanitäre Hilfe für Geflüchtete leistet. An dem Ort, an dem Sarah und ihre Schwester europäischen Boden betraten.

Von Berlin nach Lesbos

Für ERCI arbeitete Sarah erst als Übersetzerin, später schulte sie Rettungsschwimmer*innen, die Menschen vor der Küste aus dem Meer retteten. Sie betreute Social-Media-Kanäle und versuchte, mit Crowdfundingkampagnen Geld für die tägliche Arbeit der NGO zusammenzubekommen. Zwischen 2016 und 2018 reist sie drei Mal nach Lesbos.

Zum Start des Semesters Anfang September 2018 muss sie zurück nach Berlin. Davor ruft sie auf ihrem Instagram-Account dazu auf, Geld für ERCI zu spenden. "Das wäre das beste Abschiedsgeschenk, das ich mir vorstellen könnte für mein Team, die Menschen, die mir am Herzen liegen, und die Insel", schreibt sie unter einem der Fotos. In den nächsten Tagen postet sie Schnappschüsse von Freund*innen und ihrer Arbeit auf Lesbos. Sie zeigen eine junge Frau mit breitem Grinsen und Nasenring. Es sind ihre letzten Posts für viele Wochen.

Denn als Sarah den Flughafen erreicht, wird sie festgenommen. Genauso wie vier weitere Mitglieder von ERCI. Die Debatte um Seenotrettung und Hilfsleistungen für Geflüchtete hat sich in Griechenland zugespitzt. Die Griechische Justiz ist der Meinung, WhatsApp-Nachrichten von ERCI-Mitgliedern würden die Zusammenarbeit mit Schlepper*innen belegen. In den Nachrichten wurden die Koordinaten ankommender Boote geteilt. Panos Moraitis, Gründer der NGO und ebenfalls angeklagt, erklärte gegenüber dem Spiegel, man habe die Daten über offene Kanäle der Küstenwache empfangen. Eine Straftat läge nicht vor. Auch Sarahs Anwalt Zacharias Kesses hält die Anschuldigungen für haltlos. Im Tagesspiegel deutete er das Vorgehen gegen ERCI als Abschreckungsmaßnahme für ähnliche NGOs: "Es wird versucht, alle Nichtregierungsorganisationen zu kriminalisieren und damit aus Lesbos zu entfernen."

Jeden Tag ein Buch

Auf Lesbos gibt es kein Frauengefängnis, darum werden Sarah und zwei weitere Frauen, die sie nicht kennt, in einer Zelle der örtlichen Polizeistation festgehalten. Beide sprechen nur wenig Englisch, darum ist die Kommunikation schwierig. Außerdem, so erzählt es Sarah, mussten sie um Erlaubnis bitten, wenn sie die Toilette oder die Dusche benutzen wollten. "Das war eine ziemlich schreckliche Erfahrung, denn es war ein kleiner Raum, ungefähr die Größe dieser Küche." Sarah hat Zimttee aufgegossen und schaut sich in ihrer WG-Küche um. Der Raum ist etwa zehn Quadratmeter groß.

Meist habe es lange gedauert, bis ein Mitglied der örtlichen Polizei sie zur Toilette gebracht habe, berichtet Sarah. Sie habe häufig Bauchschmerzen gehabt und versucht, so wenig Wasser wie möglich zu trinken, um nicht so häufig auf die Toilette zu müssen. "Und ich las wie verrückt", erzählt sie. Ein Buch am Tag, das ist die Regel. Außerdem konnte sie zweimal täglich mit einer Freundin sprechen, die sie durch ihre Arbeit für ERCI kannte. 

Solidarische Gefangenschaft

Die Situation habe sich verbessert, als sie in das Frauengefängnis in Athen verlegt wurde. "Man wurde nur von acht Uhr abends bis acht Uhr früh eingeschlossen." Den Rest der Zeit können Sarah und die anderen Insassinnen sich außerhalb ihrer Zelle bewegen und an Angeboten wie Kunstkursen oder Griechischunterricht teilnehmen.  "Wir hatten einen Fernseher, es gab eine Toilette und eine Dusche." Vor allem der Kontakt mit den anderen Frauen tut Sarah gut: "Sie waren meine Familie dort drinnen."

Zweieinhalb Monate bleibt Sarah in Athen, bis sie auf Kaution freigelassen wird. Seit ihrer Verhaftung hatten Freund*innen, Bekannte und Sarahs Anwalt Zacharias Kesses für die Freilassung gekämpft.

Optimismus und Angst

"Es war eine interessante Erfahrung." Diesen Satz lässt Sarah während des Gesprächs in ihrer Küche mehrmals fallen. Eine interessante Erfahrung, mit guten und schlechten Seiten. Es wirkt, als wolle sie sich dagegen wehren, die Deutungshoheit über ihre Erlebnisse abzugeben. Ja, es sei schlimm gewesen, gerade am Anfang. Doch sie habe im Gefängnis auch Menschen kennengelernt, die ihr halfen, die Zeit zu überstehen. Mit einigen hat Sarah auch heute noch Kontakt.

Es war eine interessante Erfahrung.
Sarah Mardini

Hatte sie Angst während ihrer Zeit im Gefängnis? "Damals nicht. Aber jetzt schon." Die Ermittlungen gegen Sarah und die anderen Mitglieder von ERCI wurden abgeschlossen, doch noch wurde kein Urteil verkündet. "Man wartet einfach", erzählt Sarah. Im Falle einer Verurteilung stünden ihr und den anderen Mitgliedern von ERCI 25 Jahre im Gefängnis bevor. Sarah wirkt abgeklärt, fast distanziert, wenn sie davon erzählt. Als ginge es um jemand anderen. Nicht um sie selbst.

Kampf für Gerechtigkeit

Wer sich mit Sarahs Geschichte beschäftigt, bekommt schnell das Gefühl, dass die junge Frau zu einer Schlüsselfigur im Kampf gegen die Kriminalisierung der Geflüchtetenhilfe geworden ist. Sie selbst sieht das nicht so. Ihre Geschichte sei vielleicht interessanter für die Medien, weil sie selbst Fluchterfahrungen habe. Aber im Allgemeinen sei sie nichts Besonderes: "Wir sind alle gleich. Wir machen die gleiche Arbeit. Nur weil ich aus einem Kriegsgebiet komme, bin ich nicht besser darin."

Der Glaube an eine Welt, in der diese Gleichheit anerkannt wird, ist es, der Sarah antreibt. Eine Welt ohne Grenzen ist möglich, daran glaubt sie fest: "Egal, wo du herkommst, welche Hautfarbe du hast oder was deine Religion ist, wir sind alle gleich. Wir müssen anfangen, das zu begreifen. Gleichstellung ist, wofür ich immer kämpfe."

Gleichstellung ist, wofür ich immer kämpfe.
Sarah Mardini

Der Zimttee ist kalt geworden. Sarah lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie wirkt entspannt, aber man merkt ihr an, dass sie ihre Worte mit Bedacht wählt. Während des Gesprächs weist sie mehrmals darauf hin, dass sie sich zu bestimmten politischen Themen nicht äußern könne, immerhin laufe das Verfahren noch. Im Moment versuche sie, in der sicheren Zone zu bleiben. Bedeutet das, leise sein zu müssen? Sarah grinst traurig. "Im Moment bin ich leise. Ich habe keine Meinungsfreiheit." Dann beugt sie sich vor und flüstert: "Aber ich versuche, mich nicht einschüchtern zu lassen."