Seit ihr Körper Julia nicht mehr gehorcht, seit sie nicht mehr sprechen und sich bewegen kann, sind ihre Augen ihr wichtigstes Werkzeug. Blitzschnell huscht ihr Blick über den Bildschirm des Sprachcomputers. Sie wählt Buchstaben und Wörter aus, die sich zu Sätzen formen. So sagt sie das, was ihr Mund nicht mehr sagen kann. Denn mit 15 Jahren erlitt Julia einen schweren Schlaganfall.

Die heute 24-Jährige arbeitet konzentriert, öffnet Ordner auf dem Computer mithilfe ihrer Pupillen, druckt Anträge und Formulare aus. Eine kleine Leiste unter ihrem Bildschirm verfolgt und interpretiert Julias Augenbewegungen. So steuert sie den Computer ohne ihre Hände und nur mit den Augen. Sogenanntes Eyetracking.

Julia macht gerade eine Ausbildung beim Landschaftsverband Rheinland (LVR) in Köln zur Verwaltungswirtin. Sie wird in Rechtsfragen geschult und bearbeitet Anträge. Damit hat sie viel erreicht seit ihrem Urlaub auf Sardinien, als die italienischen Ärzt*innen erst gar nicht erkannten, dass Julia einen schweren Schlaganfall erlitten hatte. Im Krankenhaus in Deutschland lernte sie, mit ihrem Blick zu kommunizieren. Ihre Eltern hielten Buchstabentafeln hoch, die Julia mit ihren Augen auswählte. Die einzige Bewegung, die ihr heute möglich ist, ist ein Kopfnicken. Das musste sie sich hart erkämpfen. Dass das eines Tages auch mit dem Rest ihres Körpers klappt könnte, hält sie für sehr unwahrscheinlich. Julia sitzt seither im Rollstuhl.

Viele Schulen wollten Julia nicht aufnehmen

Ihre Tür zur Außenwelt ist ein Sprachcomputer. Ein teures Hilfsmittel, das sich für Julia als unendlich wertvoll erwiesen hat und ohne das sie ihre Ausbildung nicht machen könnte. "Dafür mussten wir richtig mit der Krankenkasse kämpfen", erzählt Julia, indem sie die Buchstaben auf dem Bildschirm mit ihren Augen auswählt. Die Vorlesefunktion gibt Julia sogar eine Stimme – wenn auch eine mechanisch klingende, die nicht so recht zu der fröhlichen und aufmerksamen jungen Frau passen will.

Nach dem Schlaganfall wollte Julia unbedingt zurück in die Schule, wollte lernen und arbeiten. Die Realschule, auf die sie vorher ging, konnte sie nicht wieder aufnehmen, da das Gebäude nicht rollstuhlgerecht war. Auch bei vielen anderen Schulen wurde sie abgelehnt, nur eine Förderschule des Landschaftsverbands Rheinland, ihres jetzigen Arbeitgebers, nahm sie auf. Hier konnte sie ihren Schulabschluss nachholen, das Fachabitur an einem Berufskolleg machen und eine Ausbildung beginnen. Die Möglichkeiten waren allerdings begrenzt, nur Verwaltung und Büro kamen für sie in Frage. In ihrer E-Mail-Signatur steht: "Aufgrund meiner Behinderung bitte ich Sie, mich vorzugsweise per E-Mail zu kontaktieren."

In Meetings ist es manchmal schwierig für Julia, denn bis sie ihren Beitrag formuliert hat, sind ihre Kolleg*innen schon bei einem anderen Punkt.

Julia ist bereits im zweiten und damit letzten Lehrjahr. Sie bereitet sich gemeinsam mit den vier anderen Auszubildenden ohne Behinderung auf die Abschlussprüfungen vor. "Davor habe ich Respekt", sagt sie und lernt deshalb nach der Arbeit noch weiter. Dreimal die Woche geht Julia nachmittags zur Therapie. Die soll ihre Muskeln beweglich halten für den Fall, dass die Technik ihr eines Tages die Kontrolle über ihren Körper zurückgeben kann: "Falls es mal einen Chip gibt, der das Kleinhirn wieder anschmeißt", wie Julia es formuliert.

Auf ihrem Weg dahin wird sie unterstützt von ihren Eltern, bei denen Julia wohnt, und ihrem Assistenzteam. Eine ihrer Assistentinnen ist Tabea. Sie studiert Chemie und hilft Julia neben der Uni im Alltag. Tabea beschreibt sich als "ein Werkzeug, das sich für Julia bewegt". Sie holt Dokumente aus dem Drucker, zeigt sie Julia, begleitet sie in die Mittagspause und auf die Toilette. Assistent*innen zu finden, ist allerdings gar nicht so einfach. Viele Menschen hätten Scheu und Berührungsängste. Tabea berichtet von Situationen, in denen Menschen nur mit ihr reden und Julia ignorieren. "Ich antworte dann nicht und gucke Julia an, damit die Leute merken, dass sie diejenige ist, die Ahnung hat", sagt sie.

"Falls es mal einen Chip gibt, der das Kleinhirn wieder anschmeißt"

Julias jetziger Arbeitgeber ist auf die Förderung von Menschen mit Behinderung spezialisiert, doch viele zahlen offenbar lieber die Ausgleichsabgabe, die für Unternehmen in Deutschland anfällt, wenn sie keine Menschen mit schwerer Behinderung beschäftigen. Dieter Zander, Julias Ausbildungsleiter, will andere Arbeitgeber*innen für das Thema sensibilisieren: "Es kann sein, dass wir morgens aus dem Haus gehen und abends gehandicapt sind. Niemand kann sagen: Das Thema geht mich nichts an." Doch wie bei jedem Arbeitsverhältnis müsse man auch bei Menschen mit Behinderung genau hinschauen, ob die Anstellung oder Ausbildung für beide Seiten eine gute Idee ist.

Julia wirkt an ihrem Arbeitsplatz gut aufgehoben. Ihre Kolleg*innen und die anderen Auszubildenden haben sie als ein Teil des Teams integriert. Nur in Meetings ist es manchmal schwierig für Julia. Denn bis sie ihren Beitrag formuliert hat, sind ihre Kolleg*innen schon bei einem anderen Punkt. Auch Freund*innen trifft sie immer nur einzeln: "Ich habe ein Problem bei viel Besuch, weil ich langsamer kommuniziere. Wenn alle durcheinander reden, sage ich lieber nichts."

Seit dem Schlaganfall mache ich keine Pläne mehr.

Kommunikation heißt für Julia, Buchstaben einzeln auszuwählen, mühsam Wörter und Sätze zu formen. Das dauert. Aber aus ihren sorgfältig gewählten Worten sprechen Tiefgang und eine große Portion Selbstironie. Julia möchte kein Mitleid, sondern Anerkennung für das, was sie trotz aller Hürden geschafft hat. Und sie will anderen Menschen mit großen Herausforderungen im Leben Mut zu machen: "Schlimmer als ein 'Nein' kann es nicht werden."

Wenn es klappt, möchte Julia gerne beim Landschaftsverband weiterarbeiten. Ihr Ziel ist es, in den gehobenen Dienst zu kommen. Aber sie sagt auch: "Seit dem Schlaganfall mache ich keine Pläne mehr." Sie wisse, dass es im Leben immer anders kommen kann.