6:10 Uhr – Der Wecker reißt mich aus dem Tiefschlaf und wie an jedem Morgen liefere ich mir einen Wettstreit mit der Snooze-Taste und frage mich, weshalb ich immer fünf Tage brauche, um mich nach dem Wochenende wieder an meinen Schlafrhythmus zu gewöhnen. Erst als ich mir zombieartig den Weg zur Dusche erarbeite, realisiere ich: Es ist erst Mittwoch. In diesem Moment verlässt mich dann auch der letzte Funke Motivation, denn mittwochs ist mein längster Schultag.

Von 7:45 Uhr bis 17 Uhr muss ich fast durchgängig in dunklen Klassenzimmern hocken und vor dem genauso lustlos wirkenden Lehrer einen auf interessiert machen. Wenn ich dann spätnachmittags nach Hause komme, ist mein Hausaufgabenheft bis auf die letzte Seite gefüllt, zumindest gefühlsmäßig. Für den nächsten Tag darf ich noch für Englisch eine Analyse und für Deutsch eine Charakterisierung schreiben und für die Bio-Klausur übermorgen müsste ich eigentlich auch mal anfangen zu lernen.

Am Ende eines solchen Tages habe ich bestimmt zehn Stunden nur für die Schule gearbeitet. Was ist mit all den anderen Schüler*innen? Kommen die mit diesem Schulalltag klar oder lassen sie dich von dem ganzen Stress erdrücken?

Schule gewöhnt uns an volle Terminkalender und ständigen Zeitmangel

Aus meiner Sicht, sprich der eines 16-jährigen Schülers, leben wir in einer Gesellschaft, die von Stress und Hektik bestimmt wird. Zahlreiche Menschen leben mit der Pflicht immer erreichbar sein zu müssen, ihren streng getakteten und genauestens durchgeplanten Terminplan einhalten zu müssen. Für diese Menschen bedeutet Alltag nur noch Stress, Zeit wird zur Mangelware. Ich spreche hier nicht von wenigen Workaholiker*innen, sondern von der Mehrheit der arbeitenden Gesellschaft so wie ich sie erlebe und beobachte.

Diese Beschleunigung und Verdichtung des Lebens ist unabhängig von Beruf, Alter und fast jeder Lebenssituation. Würde ich heute in dieser schnelllebigen Arbeitswelt ausgesetzt, könnte ich nicht mithalten und müsste wahrscheinlich in der Burn-out-Klinik zurückgelassen werden. Mich beschleicht das Gefühl, dass wir in der Schule auf diese stressvolle, von Zeitmangel bestimmte Lebensart vorbereitet und wir an Leistungsdruck und volle Terminkalender gewöhnt werden.

Schulstress hat viele Gründe

Zum Abi in zwölf Jahren

Die Gründe für diese neue Art des Schulstresses sind vielfältig. Im Gegensatz zu Schüler*innen in anderen Bundesländern, in denen wieder von G8 auf G9 zurückgewechselt worden ist, muss ich in NRW mein Abitur noch in zwölf Jahren bestehen. Das heißt keineswegs, dass ich weniger lernen muss, sondern denselben Lernstoff nur eben in kürzerer Zeit. So wurde das 13. Schuljahr mal eben in die Nachmittage verlegt, damit wir früher arbeiten, Steuern zahlen und Wirtschaftswachstum bringen. Selbstverständlich, dass nicht jede*r Schüler*in diesen Anforderungen standhält. So berichtet der DIW-Berlin, dass bei den G8-Bundesländern die Zahl der Klassenwiederholungen um knapp über 3 Prozent gestiegen ist (PDF).

Zu volle Tage

Punkt zwei ist der tägliche Zeitraub: Mein Schulalltag ist streng durchgetaktet. Der übliche Stundenplan mit etwa 36-mal-45-Minuten-Einheiten, Referate, Hausaufgaben, Klausurvorbereitungen und – hier auf dem Land – Busfahrten, auf denen man die gesamte Trilogie Der Herr der Ringe schauen könnte. Spätestens ab der Oberstufe kommt so gut wie jede*r, die*der zumindest ein einigermaßen gutes Abitur machen möchte, locker auf eine 40-Stunden-Woche wie ein*e Berufstätige*r.

Zu wenig Abwechslung

Auch die Art und Weise, wie in unseren Schulen gelernt und unterrichtet wird, kann nicht gesund sein: Stundenlang sitzen wir in Klassenräumen, vor unseren Schreibtischen und im Bus, kommen zu wenig an die frische Luft und bewegen uns höchstens noch, wenn überhaupt, im Schul- oder Vereinssport. Gleichzeitig pumpen wir unseren Kopf 24/7 mit Wissen voll und zwar nicht, wie es für unser Gehirn natürlich wäre, durch Neugierde, sondern durch aufgezwängten Frontalunterricht, bei dem alle 45 Minuten die Kassette gewechselt wird. Eine ziemlich ineffiziente und stressvolle Art des Lernens.

Zu früher Unterricht

Ein anderes Aufregerthema, welches schon seit Jahren immer wieder kritisiert wird: der zu frühe Schulbeginn. Schaut man in den ersten beiden Stunden in die Klassenräume, sieht man Schüler*innen in leichenähnlichen Zuständen und einen Lehrer, der sich selbst unterrichtet. Doch wenigstens in der Wissenschaft ist man sich einig: Von der Schlafforschung hin bis zur Neurobiologie wird ein späterer Unterrichtsbeginn gefordert, da vor allem Pubertierende unausgeschlafen und noch lustloser in der Schule erscheinen und es die Leistung dementsprechend mindert.

Mal die ganze Gesellschaft gefragt: Warum orientieren wir uns beim Aufstehen eigentlich an den paar wenigen Frühaufsteher*innen, während die große Mehrheit doch lieber noch ein wenig weiterschlafen möchte?

Zu viel Druck

Was uns noch stresst? Dieser enorme Druck, die Ansprüche und Erwartungen der Schule, der Familie, der Gesellschaft und uns selbst. Mit 16 sollen wir genauestens wissen, wie unsere Karriere verlaufen soll, bei dem NC sollte schon eine Eins vor dem Komma stehen, denn mittlerweile könnte ich ja selbst als Abiturient auf der Straße landen, währenddessen dürfen wir aber in der digitalen Welt und auf Netflix nichts verpassen, und Heidi Klum, die Victoria's-Secret-Models (fragt bitte nicht, woher ich die kenne) und David Beckham schreiben uns noch vor, wie wir auszusehen haben.

Gleichzeitig wird uns eingeredet, Zeit ist Geld und dass wir uns in der Schule schon mal an die hektische Arbeitswelt gewöhnen sollen. Nein, verdammt noch mal! Wir sind Kinder und Jugendliche und sollten alle Zeit der Welt haben. Alle sollten alle Zeit der Welt haben! Also weshalb springt ihr eigentlich alle freiwillig auf dieses sich immer schneller drehende Karussell der Hektik auf?

Schmerzen, Alkoholexzesse und Entfremdung von uns selbst

Eine neue Studie der Krankenkasse DAK bestätigt, dass 43 Prozent aller Schüler*innen unter Schulstress leiden. Das ist fast jede*r zweite Jugendliche. In der Studie werden zahlreiche Beschwerden aufgezählt, die ich bei fast allen meiner Mitschüler*innen wiedererkenne: Kopf-, Rücken- und Bauchschmerzen oder Schlafprobleme. Eine zweite Auffälligkeit, die in der Studie betont wird, ist, dass Mädchen viel häufiger von der Schule gestresst sind. Auch das kann ich ohne Bedenken unterschreiben, denn ich habe das Gefühl, dass die meisten Mädchen in meiner Klasse hohe Ansprüche an sich selbst hegen und Angst davor haben, zu versagen. Sie lernen mehr für Klausuren als wir Jungen, machen öfter und ordentlicher Hausaufgaben und arbeiten im Unterricht mehr mit.

Wenn Unzufriedenheit der Preis für gute Leistungen ist, zahlt es sich dann am Ende wirklich aus?

Weil wir diesen Schulstress irgendwann satt haben, fangen viele an, sich selbst Freiräume zu schaffen. Man tauscht sich mit Hausaufgaben aus oder verzichtet gleich ganz auf sie, freundet sich in immer mehr Fächern mit einer Vier an und so mancher schafft sich Abstand durch wochenendliche Alkoholexzesse oder durch andere Drogen, seien es Gras, Ego-Shooter oder die Sucht nach Serien.

Doch auch dabei bleibt das Wesentliche auf der Strecke: Freund*innen, die Zeit für Künstlerisches, Musikalisches oder Sportliches, für die typische Rebellion und Auflehnung der Jugendlichen und die Zeit zum Nachdenken. Denn die Frage ist doch, was wird aus uns Kindern und Jugendlichen, wenn sie nicht mehr wissen, was Langeweile bedeutet und nicht wissen, was ihre Stärken und ihre Schwächen sind, geschweige denn, wer sie sind – weil sie nie die Zeit hatten, mal ganz philosophisch über sich selbst und das Leben nachzudenken? Und das kann man sicherlich nicht mal eben in einer Freistunde.

Stress gehört zum Schulalltag wie Mathe

Versteht mich nicht falsch, ich weiß, dass eine gewisse Anstrengung zur Schule dazugehört und möchte auch keineswegs Mitleid von euch, aber möchte ich zumindest versuchen, auf ein wichtiges Problem aufmerksam zu machen und eine mögliche Antwort auf die Frage zu geben, warum unsere Gesellschaft so unglücklich, unzufrieden und Burn-out-gefährdet ist.

Denn Stress und Hektik gehören mittlerweile bereits für Jugendliche zum Alltag und sind auch in den Schulen unserer Republik angekommen. Ein fataler Systemfehler, der immer mehr Schüler*innen kränkt. Keine Einzelfälle. Ein Massenphänomen.