"Guck mal Mama, ich lebe noch", ruft eine Sechstklässlerin, als sie von der Schule kommt. Das klingt wie ein dummer Scherz. Ist es aber nicht. Schließlich hatten Eltern und Lehrer schon den ganzen Tag vor palästinensischen Angriffen gewarnt. Erst kurz zuvor war ein 13-jähriger Israeli mitten in Jerusalem von zwei palästinensischen Teenagern niedergestochen worden. Die Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern nimmt seit einem Monat rasant zu.

Israelische Kinder lernen von klein auf, wie sie sich bei Luftangriffen verhalten müssen

Die Szene mit der Sechstklässlerin erzählt Allison Kaplan Sommer, eine israelische Journalistin, in der Tageszeitung Haaretz. Israelische Mütter und Väter müssen sich wahrscheinlich mehr als Eltern in anderen westlichen Ländern um ihre Kinder sorgen. Diese Sorge ist nicht neu. Auch wenn der zweite Aufstand der Palästinenser, die zweite "Intifada", schon über zehn Jahre her ist, palästinensische Angriffe gibt es immer wieder.

Meist sind es Raketenangriffe aus dem Gazastreifen. Darauf sind die Menschen in Israel vorbereitet. Neuere Häuser haben mindestens einen Raum, der im Notfall als Bunker dient. In kleineren Städten nahe des Gazastreifens stehen etwa alle 500 Meter Luftschutzbunker, Kindergärten und Schulen sind besonders gesichert. Israelische Kinder lernen schon von klein auf, was sie im Falle eines Raketenangriffs tun müssen.

Unvorhersehbare Angriffe von Einzeltätern

Die neue Gefahr dieser Tage ist anderes, diffuser, viel schwerer zu greifen und abzuwehren. Für sie gibt es keine Sirenen und keine Bombenkeller. Es sind unvorhersehbare Angriffe einzelner Attentäter, die aus dem Nichts zu kommen scheinen und plötzlich einen Menschen auf offener Straße niederstechen. Oder mit dem Auto in eine Menschenmenge rasen.

Acht Israelis wurden seit dem ersten Oktober von palästinensischen Angreifern getötet. Von Attentätern, die offenbar auch vor Kindern nicht Halt machen und manchmal selbst noch Kinder sind. Diese Angst bestimmt gerade den Alltag der Menschen in Israel – und besonders den Alltag aller Eltern. Denn Kinder wollen trotz Attentate in die Schule gehen und draußen spielen.

Damit das Leben für ihre Kinder möglichst normal weitergehen kann, haben Eltern in Jerusalem gefordert, dass Schulen durch Wachpersonal geschützt werden. Dafür sei kein Geld da, war die Antwort der Stadt. Stattdessen wurden Schulen am Freitag geschlossen, dem Wochentag, der den Muslimen heilig ist und an dem die meisten Unruhen ausbrechen.

Die elterliche Sorge um die Sicherheit israelischer Kinder geht inzwischen schon so weit, dass arabisch-israelische Mitarbeiter an israelischen Schulen suspendiert werden. Arabische Bauarbeiter und Gärtner dürfen nicht mehr zur Arbeit gehen, arabische Putzfrauen dürfen kommen, müssen sich aber jeden Morgen nach Waffen durchsuchen lassen.

"Schaut ihnen in die Augen und sagt guten Morgen", hat ein Schuldirektor in Tel Aviv die Schüler angewiesen. Sie sollen keine Angst vor den arabischen Mitarbeitern haben. Eine Erziehungsmaßnahme sei das, erklärt der Direktor. Außerdem sei es für die Putzfrauen wichtig, sich trotz allem auf der Arbeit wohl zu fühlen.

Manche Kinder gehen mit Pfefferspray zur Schule

"Was soll ich meinem Kind sagen?" fragen Eltern im ganzen Land – und im Internet. Wenn die Tochter weinend an der Bushaltestelle sitzt, weil sie Angst hat, mit dem Bus nach Hause zu fahren. Die Eltern sie aber nicht abholen können, weil sie arbeiten oder auf die jüngeren Geschwister aufpassen müssen?

"Ich sagte ihr, sie soll dort nicht weiter herumsitzen, sie macht sich sonst noch mehr zum Ziel", berichtet die Mutter des Mädchens. Manche Kinder gehen mit Pfefferspray zur Schule, andere werden von ihren Eltern gar nicht mehr aus dem Haus gelassen.

Die Angst vor den Attentätern ist verständlich. In der Whatsapp-Gruppe eines israelischen Kindergartens forderte angeblich jemand, eine arabische Dreijährige aus dem Kindergarten zu werfen. "Für sie ist in einem jüdischen Staat kein Platz", schrieb er, "Sie sollte in ihrem Dorf bleiben. Geh nach Syrien, sie lieben euch dort. Assad wartet schon."

Auch palästinensische Eltern sind besorgt

Übrigens: Die Angst ist nicht einseitig. Auch palästinensische Eltern sorgen sich um ihre Kinder. In Bethlehem südlich von Jerusalem wurde am 5. Oktober ein palästinensischer Junge anscheinend grundlos von einem israelischen Soldaten erschossen. Er war genauso alt wie der israelische Junge, der in Jerusalem niedergestochen wurde.

Israelische Siedler greifen immer wieder palästinensische Kinder auf dem Schulweg an. Hunderte palästinensische Minderjährige werden außerdem jedes Jahr von israelischen Soldaten verhaftet und nach Militärrecht verurteilt, mit Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren.

Es scheint so, als würde hier die nächste Generation in Angst und Hass voreinander aufwachsen. Doch es gibt Projekte, die dagegen arbeiten. Zum Beispiel sechs Schulen, an denen arabische und jüdische Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Ohne Angst voreinander.