Es war Muttertag im Jahr 2005, als deutsche KFOR-Soldaten Frau Qerkezi einen Haufen Lumpen überbrachten: eine löchrige Jogginghose, vom Dreck starrende T-Shirts und zerknautschte Turnschuhe. Artans Jogginghose, Edmonds Turnschuhe. Aufbewahrt in einem luftdichten Kasten mit dem Logo des forensischen Instituts der UNO-Mission im Kosovo darauf. Männer mit entschuldigenden Blicken und Beileidsbekundungen hievten das schwere Ding in den zweiten Stock, vorbei an den Kinderzimmern, die sie all die Jahre nicht ausgeräumt hat.

Heute, zwölf Jahre später, steht eine gealterte, leicht gebückte Frau Qerkezi mit von grauen Strähnen durchzogenen Haaren vor der Vitrine. Eine rundliche Frau mit Strickjacke, die längst Großmutter sein könnte und nie eine sein wird. Seit dem 27. März 1999 hat sie sich geschworen, ihr Haus so zu belassen, wie es einmal war. Die Welt soll wissen, wer ihre Söhne waren und warum sie sterben mussten.

Ein Haus mit Garage und quietschendem Gartentor. Die albanische Flagge, ein schwarzer Doppeladler auf rotem Grund, weht vor der Haustüre. Ein gepflegtes Wohnviertel mit asphaltierten Bürgersteigen und verputzten Häusern lässt einen kurz vergessen, dass man sich in einem der ärmsten Länder Europas befindet. Gjakova liegt im Westen des Kosovo. Die albanischen Gebirgsketten umranden die Stadt wie weiße Riesen, beschützend und bedrohlich zugleich.

Beschützend, weil während des Krieges viele Familien dort oben Schutz suchten. Bedrohlich, weil das Gebirge zu einer Hochburg der albanischen Widerstandsbewegung UÇK wurde: selbsternannte Freiheitskämpfer in Camouflage-Uniformen, welche die Unabhängigkeit des Kosovo zum Ziel hatten. So wurde Gjakova in den Neunzigerjahren zu einem Stachel im Fleisch des serbischen Milošević-Regimes. In kürzester Zeit wandelte sich die Stadt von einem wichtigen industriellen und akademischen Zentrum unter Tito zum leidtragendsten Ort des Landes.

"Irgendwann waren hier mehr Soldaten stationiert als Einwohner", erinnert sich Frau Qerkezi, "und dann ist Schreckliches passiert." Die Bilanz der internationalen Gemeinschaft sollte ihr nach dem Krieg recht geben: Nirgendwo sonst im Kosovo kamen mehr Menschen ums Leben als hier. 18 Jahre später wissen viele von ihnen immer noch nicht, was mit ihren Familien passiert ist. Sie rattern die Chronologie jener Tage, an denen ihre Liebsten verschwunden sind herunter, als würden sie ein Gebet sprechen. Jedes Detail des 27. März 1999 hat sich im Gedächtnis von Frau Qerkezi eingebrannt. Die Frau faltet die Hände und beginnt zu erzählen.

Das Ende der Familie Qerkezi

Sohn Artan startet den Motor und lenkt den grünen Opel Kadett aus der Garage, wie es ihm die Soldaten befehlen. Einer davon kommt Frau Qerkezi bekannt vor. Dragan R. hat früher im Kulturzentrum von Gjakova gearbeitet. Jetzt trägt er eine Uniform und hat ein Maschinengewehr umgehängt, das er auf ihre Familie richtet. Mit dem Lauf deutet er zur inzwischen leeren Garage, wo eine Türe in den Keller führt. Vater Halim zuerst, dann die Mutter Ferdone und die vier Söhne Artan (25), Edmond (14), Armend (24) und Ardian (19).

Die Soldaten bestellen Schnaps, aber die Qerkezis haben keinen zu Hause. Sie sind Muslime*Muslimas. Die Soldaten feixen: "In eurem Lokal schenkt ihr doch auch Alkohol aus, warum nicht hier?" Jeder in der Stadt kennt den kleinen Imbiss der Qerkezis, den Vater Halim Anfang der Neunzigerjahre eröffnet. Es gibt Gegrilltes Hackfleisch mit Zwiebeln, Brot und Ayvar aus roten Paprika. Zum deftigen Essen darf ein Schluck Raki, türkischer Anisschnaps, nicht fehlen.

Der Sozialismus, der mit dem Zerfall Jugoslawiens zu bröckeln beginnt, hat eine Generation von Muslimen*Muslimas zurückgelassen, denen man abgewöhnt hat, streng gläubig zu leben. Bald spricht sich auch bei den stationierten Serb*innen herum, wo es das beste Gegrillte gibt. In der Pause machten sie sich einen Spaß daraus, die Söhne herumzukommandieren. Sie mussten das Essen vorkosten, sich Schimpftiraden anhören. "Bezahlt haben sie nie", sagt Qerkezi. So ging das einige Jahre, bis zum März 1999, dem Beginn der Nato-Bombardements auf serbische Ziele in Jugoslawien. In Gjakova und anderen Städten des Kosovo kam es zu Racheaktionen an Albaner*innen. Dörfer brannten, Frauen wurden vergewaltigt und Männer verschleppt.

Irgendwann standen die Soldaten auch im Keller der Qerkezis und verlangen, nachdem es keinen Schnaps gab, nach Kaffee. Frau Qerkezi sieht sich die Tassen zitternd nach unten tragen. Der Soldat, der einen Kaffee mit wenig Zucker bestellt hat, schimpft: "Da ist nicht genug Zucker drin!" Am Ende des Abends, als die Söhne und der Mann abgeführt werden, wird sie alleine zurückbleiben. "Du hast zehn Minuten, um deine Sachen zu packen und nach Albanien abzuhauen", ist das letzte, das ihr die Soldaten sagen.

1.660 Personen werden im Kosovo vermisst

Auch 18 Jahre nach dem Kosovokrieg bleibt das Schicksal von Hunderten Verschleppten und Ermordeten ungeklärt. Das kleine Land in Südosteuropa, das vor neun Jahren seine Unabhängigkeit erklärt hat, strebt eine europäische Zukunft an. Doch die Vergangenheit ist überall. Man trifft kaum eine Familie, die nicht von brennenden Häusern und zerbombten Straßen zu erzählen weiß. Aufgrund des Bosnienkrieges und des Zerfalls der Sowjetunion blieb das, was hier in den 90er Jahren passiert ist, lange im Schatten der internationalen Aufmerksamkeit.

Der serbische Ex-Staatschef Slobodan Milošević entmachtete die ehemals autonome Provinz Kosovo durch eine Verfassungsänderung. Albaner*innen wurden aus den Schulen, Universitäten und dem Parlament verbannt. Die Qerkezi-Söhne gingen, wie so viele ihrer Generation, heimlich in Kellern oder Moscheen zur Schule. 100.000 Albaner*innen verloren damals ihren Job. Es gab Diskriminierungen im Alltag, Schikanen auf offener Straße.

Ab 1997 ging der Konflikt in einen Bürgerkrieg zwischen der sogenannten Befreiungsarmee-Kosovo UÇK und serbischen Sicherheitskräften über. Es kam zu Erschießungen, Massakern, Vergewaltigungen. Obgleich ohne UN-Mandat, griff die NATO ein und bombardierte 78 Tage lang serbische Ziele in Jugoslawien, um einen Völkermord an den Albaner*innen zu verhindern. Beides, Luft- und Bürgerkrieg, trieb 850.000 Menschen in die Flucht. Nach dem Rückzug serbischer Truppen wurde der Kosovo unter UN-Verwaltung gestellt. Im Kosovo leben nach wie vor Familien, die nicht wissen, was damals mit ihren Angehörigen passiert ist. Laut Internationalem Roten Kreuz werden noch immer 1.660 Menschen vermisst. Der Großteil davon sind Kosovo-Albaner*innen. Etwa 500 der Vermissten sind Serb*innen und andere Minderheiten, etwa Roma und Aschkali.

"Wir sind vermutlich die Letzten, die versuchen werden, diese Menschen zu finden", sagt Tarja Formisto. Die finnische Forensikerin arbeitet für die EU-Rechtshilfemission Eulex, die den Kosovo dabei unterstützt, eine funktionierende Justiz aufzubauen. Doch noch immer ist das Land von Korruption zerfressen. Dazu kommen die hohe Arbeitslosigkeit und ein angespannter Dialog mit Serbien, das den Kosovo nach wie vor nicht anerkennt.

Dass es bei der Suche nach den Vermissten nicht um Gerechtigkeit, sondern um Politik geht, treibt die Opferfamilien an den Rand der Verzweiflung. Frau Qerkezi versteht nicht, warum zuerst die individuellen Verbrechen im eigenen Land aufgearbeitet werden, bevor Serbien, als staatlicher Aggressor, sich zu einer Entschuldigung durchringen kann. Spricht man über den Kosovokonflikt, dann darf man nicht vergessen, dass auch Serb*innen Opfer von Kriminalität, Auftragsmorden, Verschleppungen und laut einem Bericht des Europarats auch Organhandel wurden. Doch für viele Albaner*innen sind die Mitglieder der UÇK, welche derartige Racheaktionen an Serb*innen durchführten, bis heute Helden.

Warum ist es so schwer, die Knochen von 1.600 Vermissten zu finden? Das hat vor allem mit den schlechten Beziehungen zwischen Pristina und Belgrad zu tun. Ein Großteil der Knochen liegt längst nicht mehr im Kosovo. Nach dem Motto No bodies, no crimes wurden auf serbischen Befehl Hunderte Leichen in Lkw über die Grenze transportiert und in Massengräbern verscharrt. Ein Jahr nach dem Sturz des Milošević-Regimes wurde in einem Vorort von Belgrad ein Massengrab mit 800 Menschen gefunden.

Viele der Ermordeten stammten aus Gjakova, wo Frau Qerkezi heute im leeren Haus lebt, in dem sie ihre Söhne großgezogen hat. Die Knochen von Artan und Edmond wurden 2005 gefunden, ihre beiden anderen Brüder bleiben bis heute spurlos verschwunden.

Ein Haus wie damals

Der zweite Stock ist unbeheizt. Der Boden scheint noch die Kälte des Winters gespeichert zu haben. Frau Qerkezi kommt nur noch hier hoch, wenn jemand die Zimmer sehen will, die sie in ein Museum verwandelt hat. Die Vitrine mit den Lumpen ist da, die Ping-Pong-Schläger von Edmond, dem damals 14-Jährigen und der Anzug, den der Erstgeborene Artan bei seiner Hochzeit getragen hat. Ein Jahr vor seinem Verschwinden, im Alter von 24 Jahren, hat er geheiratet. Die Schuhe seiner Brüder Ardian und Armend stehen noch im Regal, an der Wand hängen Poster und Bilder.

Frau Qerkezi hält die Räume sauber, fast so, als erwarte sie Gäste. In den ersten fünf Jahren nach dem Verschwinden der Söhne kamen noch die Ehefrauen der Ältesten vorbei, die nicht wussten, ob sie Witwen waren oder nicht. Frau Qerkezi kochte und deckte den Tisch für Acht, obwohl nur drei Stühle besetzt waren. Das war ihr Ritual. Bis die Witwen wieder heirateten. "Sie sind jung, sie haben verdient, ihr Leben zu leben", sagt sie heute.

Zu Beginn gab es in Gjakova noch Proteste von Opferfamilien, die von der kosovarischen Regierung Antworten verlangten. Irgendwann kamen die Betroffenen zu Frau Qerkezi nach Hause, um sich auszutauschen. Im ehemaligen Wohnzimmer hat sie eine Galerie angelegt: Familienporträts hängen neben Beileidsbekundungen, Zeitungsartikeln und Fotos mit bekannten Persönlichkeiten, denen Ferdone Qerkezi ihre Geschichte erzählt hat. Neben kosovarischen und albanischen Politiker*innen auch Prinz Charles.

"Die Mörder meiner Kinder wurden nie belangt", erzählt sie ihnen, "und die Regierung in Serbien weiß, wer sie sind." Heute leben in Gjakova ausschließlich Albaner*innen. Frau Qerkezi findet das gut. Sie kann nicht verzeihen und möchte nicht vergeben. Sie möchte die Geschichte in ihrem Haus konservieren, so wie die UNO die Lumpen ihrer Kinder.

Auf einem Hügel über der Stadt wurde ein eigener Friedhof für die Vermissten von Gjakova angelegt. Helle Marmorklötze ziehen sich über die Wiese wie Pflastersteine. Die Blumensträuße auf den Gräbern sind mit Steinplatten befestigt, damit sie nicht vom Wind davongetragen werden. Die Gräber von Halim, Ardian, Edmond, Artan und Armend Qerkezi liegen nebeneinander. Drei davon sind leer.

Diese Reportage ist im März 2017 in veränderter Form im "der Freitag" erschienen. Franziska Tschinderle, 22, ist freie Journalistin aus Wien. Die Fotos stammen vom Wiener Fotografen Martin Valentin Fuchs.