Die Beziehung zwischen Kind und Eltern ist die engste unseres Lebens. Warum bricht sie manchmal und wie verarbeiten das die Betroffenen? In einer sechsteiligen Serie gehen wir diesen Fragen nach. 

Wir konzentrieren uns in der Serie auf die Sicht der Kinder. Wie Eltern damit umgehen, lest ihr in diesem Artikel.

Sonja*, 43, aus einer Großstadt im Rheinland:

Meine Mutter ist jetzt 82 Jahre alt. Es klingt hart, aber ich hoffe, dass sie bald stirbt. Dann hätte ich noch etwas Zeit mit meinem Vater. Ich treffe mich ein paarmal pro Jahr mit ihm, aber es wäre häufiger, wenn sie nicht da wäre. Meine Mutter hat einen Keil in die Familie getrieben.

Das letzte Gespräch zwischen ihr und mir fand in der Wohnung meiner Eltern statt. Ich war mit meinem Sohn, damals sieben Jahre alt, zu Besuch. Bis zu diesem Zeitpunkt war schon viel zusammengekommen. Sie hat mich als Kind verprügelt – oft völlig willkürlich. Mal mit den bloßen Händen oder mit Gegenständen, die gerade da waren; Kleiderbügeln etwa. Ich hatte außerdem erfahren, dass sie meinen Sohn unangemessen zwischen den Beinen berührt hatte.

Doch darüber haben wir nie gesprochen. Stattdessen hat sie mich bei dem Treffen mit Vorwürfen überhäuft. Ich würde ihr das Kind entziehen, ich wäre schuld an ihrem Unglück und so weiter. Nach nur zehn Minuten sagte ich: "So brauchen wir nicht reden." Ich nahm meinen Sohn und wir verließen die Wohnung.

Seitdem haben wir nicht mehr gesprochen. Das ist acht Jahre her."

Die meiste Zeit geht es mir sehr gut damit, aber es kommt immer wieder hoch. Ich bin wütend auf sie. Wenn sie eine normale, liebende Mutter gewesen wäre, wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Erst kürzlich hatte ich ein Burn-out. Das war, weil meine Chefin genau die gleichen Knöpfe gedrückt hat wie meine Mutter. Sie hat mich emotional erpresst.

Ich bin der festen Überzeugung, dass sie sich nicht mehr ändert. Sie ist zum Beispiel auch nicht bereit, ein moderiertes Gespräch zu führen – etwa mit meinem Mann und mir. Mit ihr allein würde ich auf keinen Fall sprechen.

Franzi*, 30, Braunschweig:

Mein Vater ist schwerer Alkoholiker und hat mich geschlagen, wenn er wütend war. Meine Mutter ist nie dazwischen gegangen, sondern hat mich sogar noch als Schutzschild benutzt oder mich vorgeschoben, wenn er eigentlich sauer auf sie war. Deshalb bin ich auf sie noch wütender als auf ihn. Als ich 13 Jahre alt war, haben sich meine Eltern getrennt. Ich blieb bei meiner Mutter, aber es wurde kaum besser.

Sie hatte bald einen neuen Freund, der 50 Kilometer entfernt gelebt hat. Sie war kaum noch zu Hause, kam nur einmal die Woche, um Lebensmittel zu kaufen – ich war komplett auf mich alleine gestellt. Mit 16 bin ich dann ins Internat und mit 18 schließlich von zu Hause ausgezogen. Aber auch da hat sie mich noch emotional erpresst. Ich rief sie an, um zu sagen, dass ich gerne das Kindergeld hätte, weil ich das Geld für die Wohnung brauchte.

Dann hat sie geweint und gesagt, sie bräuchte das Geld selbst – andernfalls müsste sie unsere Katze einschläfern lassen, weil sie sich das Tier nicht mehr leisten könnte."

Mit 20 Jahren hatte ich dann genug. Ich hab zu diesem Zeitpunkt schon 400 Kilometer entfernt gewohnt. Sie hatte die Krankenkasse gewechselt, mich aber bei der neuen nicht mit familienversichert und mir davon nichts gesagt. Ich hab es erst gemerkt, als ich beim Arzt war. Kurz darauf hatten wir unser letztes Telefonat. Ich habe ihr gesagt, dass es mir reicht und dass sie mir nicht gut tut.

Seitdem habe ich sie nur noch zweimal gesehen. Einmal auf dem Geburtstag meiner Oma als ich 24 war und einmal auf der Beerdigung meiner Oma – da war ich 28. Dort habe ich nur Hallo zu ihr gesagt. Bei den Kondolenzbekundungen kam eine fremde Frau auf mich zu und sagte mir, was für eine schlechte Tochter ich sei und dass man so etwas nicht tun würde. Meine Mutter tat damals so, als ob wir noch Kontakt hätten. Ich habe mittlerweile einen vierjährigen Sohn. Den hat sie noch nie gesehen, aber ich weiß, dass sie damals bei meiner Oma Bilder von ihm abfotografiert hat und die jetzt rumzeigt.

Mit meinem Vater hatte ich mich kurz vor meinem 18. Geburtstag wieder angenähert. Er hat mir auch mal einen total süßen Brief geschrieben, dass er sich daran erinnern konnte, wie der Schnee unter seinen Füßen geknirscht hat, als sie zur Entbindung gingen. Danach habe ich öfter versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Er ging nie ans Telefon oder in seiner WG sagten sie, er wäre nicht da.

Nach vier Anläufen habe ich nun endlich einen guten Therapeuten gefunden. Es beeinflusst mein Leben immer noch, aber ohne meine Mutter geht es mir einfach besser.

Anna*, 61, Schwäbische Alb:

Meine Mutter starb 2014, doch die letzten vier Jahre ihres Lebens hatte ich absolut keinen Kontakt mehr zu ihr. Die Gründe hierfür waren vielschichtig:

Ich wurde sowohl als Kind als auch als Teenager von meinem Vater sexuell missbraucht. Er starb 1999. Meine Mutter wusste davon, doch sie fühlte sich – so sehe ich das heute – offensichtlich aufgrund ihrer eigenen Traumen sowie ihrer finanziellen und psychischen Abhängigkeit nicht in der Lage, mich vor diesem Mann zu schützen. Stattdessen verwandte sie unglaublich viel Energie darauf, diese Fakten zu bestreiten. Eine ihrer Strategien hierbei bestand darin, mich für verrückt zu erklären. Eine weitere ihrer Spezialitäten bestand darin, mich abzuwerten und mir nichts zuzutrauen.

Eine weitere Masche bestand darin, mich verbal auf unterschiedliche Art und Weise zu verletzen. Wenn ich anschließend emotional reagierte, teilweise als getriggerte und retraumatisierte Frau überreagierte, hielt sie mir vor, ich werde zu emotional und laut.Als auch mein letzter Versuch, sie auf diesen Missbrauch anzusprechen misslang und weil sie zudem erwartete, dass jedes Treffen nach ihren Regeln abzulaufen habe, ohne auf meine Bedürfnisse einzugehen, beschloss ich, mich vor jeglichem Kontakt mit ihr zu schützen. Das war 2010. 

Als ich den Kontakt komplett abgebrochen hatte, plagte mich immer wieder – insbesondere an Festtagen – mein schlechtes Gewissen."

In den vier Jahren bis zu ihrem Tod war sie teilweise hilfsbedürftig geworden. Doch ich beschloss – aus Selbstschutz – den Kontakt nicht mehr aufzunehmen. Heute weiß ich, es gab kein Miteinander zwischen meiner Mutter und mir, denn zu viele beidseitige Verletzungen trennten uns. Auch projizierte meine Mutter ihre eigenen Traumen auf mich und versuchte somit unbewusst mich in ihre frühere Rolle als herabgewürdigte Tochter zu drängen. Ich hatte einfach keine Chance.

Müsste ich heute erneut entscheiden, ich würde genauso wieder den Kontakt zu meiner Mutter abbrechen, weil nur so mein eigenes Überleben – heute Leben – möglich wurde.

Heute, zwei Jahre nach ihrem Tod, kann ich ihr dennoch für vieles, was sie mir mitgab, auch dankbar sein."

So lebte sie mir eine tiefe Naturverbundenheit vor, eine wesentliche Kraftquelle meines Lebens. Zudem habe ich durch sie schon als Kind einen grünen Daumen mitgegeben bekommen und heute einen wunderbaren, verwunschenen Garten.

In Teil 1 bis 3 dieser Serie kommen Betroffene zu Wort: Kinder, die Opfer von Gewalt geworden sind (dieser Artikel) und solche, die von ihren Eltern im Stich gelassen wurden (Teil 2) oder nicht akzeptiert werden (Teil 3). In Teil 4 äußern sich Expert*innen zu diesem Thema.

Teil 5 widmet sich dem umgekehrten Fall: Wie fühlt es sich an, wenn der eigene Vater den Kontakt zum Sohn abbricht? Die Serie endet mit mit einem Protokoll über eine 20-Jährige, die nach einer Zeit der Funkstille wieder Kontakt zu ihrem Vater hat. 

* alle Namen geändert
Die Bundesregierung hat ein unabhängiges Amt für Betroffene von sexuellem Missbrauch eingerichtet. Das Amt bietet auch ein "Hilfetelefon Sexueller Missbrauch" und ist kostenlos unter (0800) 22 55 530 zu erreichen.