Seit sie 26 ist arbeitet die mittlerweile 32-jährige Hamburgerin Edith Arnold als Sexualbegleiterin für Menschen mit Behinderungen, die in Heimen und Einrichtungen leben. Eigentlich ist sie gelernte Schneiderin und hat ein Produktdesign-Studium begonnen, aber als sie eine Doku zum Thema Sexualbegleitung gesehen hat, war für sie sehr schnell klar: als Sexualbegleiterin möchte sie arbeiten.

Sexualbegleitung ist eine spezielle Form der Sexarbeit, bei der für die gemeinsam verbrachte Zeit bezahlt wird. Vor einem Termin ist sehr offen, was genau passieren wird. Das hängt von den Beteiligten ab. Edith Arnold beschreibt es auf ihrer Homepage so: "Es entsteht Raum für Berührungen, Massagen, Zweisamkeit und vielleicht erste sexuelle Erfahrungen." Für viele ihrer Klient*innen ist die Begegnung mit ihr die erste intime oder sexuelle Begegnung überhaupt. Anders als andere Formen der Sexarbeit ist die Sexualbegleitung auf eine Langfristigkeit angelegt, bei der es nicht nur um die Befriedigung sexueller Bedürfnisse geht, sondern auch um die Persönlichkeitsentwicklung des*der Klient*in.

Trotz der Unterschiede zu anderen Arten der Sexarbeit gehört Edith Arnold nach dem Gesetz zu den Sexarbeiter*innen. Seit Juli 2017 gilt in Deutschland das Prostituiertenschutzgesetz. Hiernach sind alle Sexarbeiter*innen meldepflichtig. Auch Edith Arnold ist in Hamburg als Sexarbeiterin gemeldet und hat einen entsprechenden Ausweis. Sie hat kein Problem damit, als Sexarbeiterin zu gelten, wie sie in Die Berührerin, einer ZDF-Doku über ihre Arbeit, erklärt: "Wenn man es runterbricht, ist es das: Es ist eine bezahlte sexuelle Dienstleistung." Das Problem sei vielmehr, dass Sexarbeit so stigmatisiert sei: "Prostitution ist nur unglaublich negativ behaftet. Ich finde es auch immer spannend, dass das als Beleidigung dient. Also dass jemand sagen kann: 'Du bist doch nur eine Prostituierte' – und dadurch das Gefühl hat, er sei etwas Besseres."

Edith Arnold hat vor der Corona-Krise durch Sexualbegleitung ihren Lebensunterhalt bestritten und will das auch nach der Krise wieder tun. Eine Stunde Sexualbegleitung kostet bei ihr 150 Euro – meist wird dieses Honorar von den Angehörigen ihrer Klient*innen bezahlt, weil diese oft nur über ein Taschengeld verfügen.

Derzeit ist im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus jegliche Form der Sexarbeit untersagt. Damit auch Edith Arnolds Tätigkeit als Sexualbegleiterin. Sie lebt momentan durch Spenden, die sie durch eine Crowdfunding-Kampagne erhält. Das einzig Positive an der derzeitigen Lage: Sie findet Zeit, über ihre Arbeit zu reflektieren und konnte einen Blog zum Thema starten.

Wir haben sie am Telefon erreicht und mit ihr über ihre Arbeit, den Wert von Berührungen, Grenzen zwischen Privatem und Beruflichem sowie die Zukunft der Sexualbegleitung gesprochen.

ze.tt: Edith, du bezeichnest die Sexualbegleitung auf deiner Homepage als ein "Tabuthema". Warum ist deine Arbeit ein Tabu?

Edith Arnold: Die Sexualbegleitung ist eine bezahlte sexuelle Dienstleistung. Das ist das erste Tabu. Und dann geht es auch noch um Sexualität mit einer Behinderung. In der Sexualbegleitung kommen einfach viele Tabus zusammen. Und dadurch bekommt das Thema eine gewisse Brisanz.

Du hast es schon angesprochen: Bei der Sexualbegleitung handelt es sich um eine bezahlte sexuelle Dienstleistung. Du zählst dich selbst zu den Sexarbeiter*innen. Warum die spezielle Bezeichnung der Sexualbegleitung?

Es gibt ja ganz viele unterschiedliche Angebote im Bereich der Sexarbeit. Ich spreche gerne von einem Spektrum an Sexarbeit. Das heißt, so wie man beispielsweise eine Domina oder einen dominanten Mann beauftragen kann, kann man eben auch eine*n Sexualbegleiter*in beauftragen. Außerdem fühlen sich Einrichtungen und das Umfeld meiner Klient*innen noch nicht so frei, ganz selbstbewusst zu sagen: Wir nehmen jetzt die Arbeit eines*r klassischen Sexarbeiter*in in Anspruch. Die Einrichtungen, in denen meine Klient*innen leben, fühlen sich beim Kontakt mit einer*m Sexualbegleiter*in tatsächlich wohler.

Ist die Sexualbegleitung ein Angebot, das sich ausschließlich an Menschen mit Behinderung richtet oder hast du auch andere Klient*innen?

Meine Klient*innen sind mittlerweile nur noch Menschen im Autismus-Spektrum und Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung. Es hat sich im Laufe der Jahre so herausgestellt, dass ich mit diesen Menschen, glaube ich, einen ganz guten Kontakt herstellen kann. Bei anderen Anbieter*innen können sich aber zum Beispiel auch Menschen melden, die sehr schüchtern sind, oder Menschen, die noch sehr wenig sexuelle Erfahrungen haben und gerne welche machen möchten.

Erhältst du auch Anfragen von Menschen mit körperlichen Behinderungen?

Ja. Aber ich bitte sie mittlerweile, sich nach anderen Anbieter*innen umzugucken. Zu Beginn meiner Arbeit als Sexualbegleiterin habe ich Termine mit einigen körperbehinderten Menschen vereinbart. Aber ich hatte bald den Eindruck, dass in den meisten Fällen ein eigentlich schon sehr selbstständiger Mensch auf mich zugekommen ist, der*die seine*ihre Wünsche verbalisiert und geäußert hat. Ich habe für mich irgendwann nicht mehr das Problem gesehen habe, warum der*diejenige sich nicht auch einem*r klassischen Sexarbeiter*in anvertrauen könnte. Diejenigen, mit denen ich arbeite, also Menschen im Autismus-Spektrum und mit kognitiven Behinderungen, die haben eigentlich noch viel mehr Hürden, und da fand ich es wichtig, dass diese zum Hauptfokus meiner Arbeit werden.

Du hast keine Ausbildung zur Sexualbegleiterin durchlaufen – die gibt es auch gar nicht, zumindest nicht staatlich anerkannt. Wie hast du gelernt?

Zu Beginn meiner Arbeit habe ich Kontakt zu Nina de Vries aufgenommen – einer erfahrenen Sexualbegleiterin aus den Niederlanden, die schon 20 Jahre im Beruf tätig ist. Für mich war sie eine gute Ansprechpartnerin, weil sie eben auch eine Frau ist und das Interesse an der Arbeit mit Menschen im Autismus-Spektrum und Menschen mit einer kognitiven Behinderung hat. Sie hat mir dann Skype-Beratungen gegeben. Und so habe ich dann gelernt. Wir hatten keine bestimmten Lehrinhalte, aber es gab gewisse Situationen aus meiner Arbeit, die wir vor- und nachbesprochen haben.

Sexualbegleitung lebt von körperlicher und emotionaler Nähe. Wie schaffst du es, die Grenze zwischen Privatem und Beruflichem zu ziehen? Oder gibt es die gar nicht?

Die gibt es schon. Wenn ich Menschen in Einrichtungen besuche – es sind ja meistens Menschen in Einrichtungen, mit denen ich Termine habe – dann gehe ich ja auch wieder raus aus der Situation. Ich gehe dann in meinen Feierabend – und das gelingt mir ganz gut. Ich nehme schon gewisse Probleme mit, mit denen ich durch meine Arbeit in Berührung komme. Zum Beispiel, dass Frauen mit Behinderung immer noch das Bedürfnis nach Sexualität abgesprochen wird oder dass die Missbrauchsrate bei Frauen mit einer Behinderung wesentlich höher ist als im Durchschnitt. Das betrifft mich schon. Das betrifft mich emotional und das nehme ich in Gedanken mit, aber ich muss ja nach meiner Arbeit auch wieder in meinen Alltag reinkommen und mich mit mir und meinem Umfeld beschäftigen. Sonst würde mich diese Arbeit vermutlich auch auffressen.

Es wäre ja schade, wenn man möglichst verhindern wollte, dass man füreinander schwärmt und schön aneinander denkt.
Edith Arnold

Hat schon einmal eine*r deiner Klient*innen Gefühle für dich entwickelt, die über die Sexualbegleitung hinaus gingen? Oder umgekehrt: Hast du schon einmal eine Bindung zu einer*m Klient*in entwickelt, die über die Termine hinaus ging?

Sympathie empfinde ich für alle meine Klient*innen, sonst könnte ich mit ihnen auch nicht zusammenarbeiten. Wenn mir jemand sehr unsympathisch ist, dann ist es für mich unmöglich, mit dem*derjenigen in einen Termin zu gehen oder einen Termin zu vereinbaren. So ist das wahrscheinlich auch bei meinem Gegenüber. Ansonsten würden sich die Termine ja gar nicht so schön entwickeln, auch über eine gewisse Zeit hinaus, wie es bei den Klient*innen, mit denen ich arbeite, der Fall ist. Sexualbegleitung ist für mich nie frei von gegenseitiger Sympathie und das muss sie ja auch überhaupt nicht sein. Es wäre ja schade, wenn man möglichst verhindern wollte, dass man füreinander schwärmt und schön aneinander denkt. Auch verliebt zu sein muss man ja behinderten Menschen zusprechen.

Wie beugst du dann falschen Hoffnungen vor?

Ich kann meinem Gegenüber beim ersten Termin nur sagen: "Das ist meine Arbeit. Die mache ich sehr gerne und ich mag dich als Mensch, aber eine Beziehung oder ähnliches wird daraus nicht entstehen." Und dann muss mein Gegenüber das für sich nehmen und entscheiden, ob er*sie sich darauf einlassen kann und die Termine fortführen will.

Vor sechs Jahren hast du in der Brigitte geschrieben: Bei den Treffen kann alles passieren, was beiden Beteiligten Spaß macht. In meiner Arbeit als Sexualbegleiterin schließe ich nichts aus. Heute steht auf deiner Homepage: Der aktive Geschlechtsverkehr ist ausgeschlossen. Wie kam es zu diesem Haltungswechsel?

Am Anfang hatte ich das sehr offen gelassen, weil das ja eigentlich auch das Konzept der Sexualbegleitung ist, dass man möglichst frei und offen aufeinander zugeht und schaut, was die Wünsche des Gegenübers und was die eigenen Wünsche sind und dann guckt, was man bereit ist zu geben. Ich hatte aber irgendwann das Gefühl, dass dann insbesondere junge Männer schon mit einer gewissen To-do-Liste auf mich zukamen, so in etwa wie: Ich bin der und der und ich möchte das und das und das ausprobieren und das bitte kommende Woche in einer Stunde. Solche Wünsche sind ja völlig berechtigt – man kann sich ja wünschen, was man ausprobieren möchte. Aber ich hatte das Gefühl, das entspricht nicht mehr dem ursprünglichen Bild der Sexualbegleitung, eine Situation möglichst offen zu gestalten. Das war etwas, mit dem ich mich nicht mehr identifizieren konnte. Mit den Menschen, mit denen ich mittlerweile arbeite, gehe ich nicht so weit wie mit einer Person, mit der ich mich verbal problemlos verständigen könnte.

Wie verständigst du dich mit Klient*innen, die sich gar nicht oder kaum verbal ausdrücken können? Woher weißt du, was ihre Wünsche sind und was nicht?

Das ist wohl eine der komplexesten Fragen in meiner Arbeit, denn eine Begegnung muss immer freiwillig geschehen. Deswegen starte ich mit meinen Klient*innen nicht von Null auf Hundert, sondern gebe den Treffen eben die Zeit, die es braucht, und hole bei nonverbalen Menschen vorab viele Informationen ein, die mir ein Gefühl für die Kommunikation mit der Person geben. Es wäre aber falsch, zu glauben, nur weil ein Mensch nonverbal ist, könnte er*sie nicht kommunizieren. Nonverbale Menschen kommunizieren halt anders: Mit Erfahrung kann man Ablehnung und Zuneigung deuten.

In Anlehnung an die ZDF-Doku über deine Arbeit nennst du dich Die Berührerin. Berühren wir uns zu wenig?

In Zeiten von Corona ist es sinnvoll und notwendig, dass wir Berührungen im Moment reduzieren. Aber auch schon vor Corona gab es ein Defizit an Berührung, glaube ich. Bei dem*r Otto-Normal-Verbraucher*in vielleicht nicht. Aber es gibt Lebensumfelder, die sehr berührungsarm sind. Zum Beispiel Einrichtungen für behinderte Menschen, in denen ich ja auch arbeite.

Was verhindert dort die Berührungen?

Die Mitarbeiter*innen in den Einrichtungen müssen ja eine gewisse professionelle Distanz wahren, die eben auch körperlich einzuhalten ist. Das ist ja auch völlig richtig. Nur eine gewisse intime und vielleicht auch warme oder sogar sexuelle Berührung fällt unter den Umständen natürlich völlig hintenüber. Die Erfahrungen, die nicht-behinderte Menschen außerhalb von Einrichtungen in der Regel als ganz normale Schritte ihrer sexuellen Entwicklung machen – der erste Kuss, das erste Händchenhalten und auch der erste Geschlechtsverkehr – sind in Einrichtungen – gefühlt – fast schon untersagt.

Wie berührst du in Zeiten von Kontaktverboten?

Ich telefoniere mit einigen meiner Klient*innen, damit sie mal mit jemand anderem sprechen können. Ich versuche auch, über Social Media mit der einen oder dem anderen in Kontakt zu bleiben. Aber meine praktische Arbeit ist bis auf unbestimmte Zeit verboten. Und tatsächlich wäre es derzeit auch für mich selbst gefährlich zu arbeiten: Wie viele meiner Klient*innen gehöre ich zur Risikogruppe. Ich habe Multiple Sklerose und eine Immuntherapie hinter mir. Mein Immunsystem ist noch nicht so stark.

Ich glaube, nach Corona wird es sogar einen noch höheren Bedarf, ein noch höheres emotionales Bedürfnis nach Sexualbegleitung geben.
Edith Arnold

Fürchtest du dich um deine berufliche Zukunft als Sexualbegleiterin?

Tatsächlich ja. Es gibt gute Tage und es gibt schlechte Tage. Und manchmal schlägt die Existenzangst schon durch. Wenn ich nicht über meine Crowdfunding-Kampagne die vielen Menschen gefunden hätte, die mich unterstützen wollen, wäre meine Existenz schon längst dahin. Aber ich versuche, möglichst positiv zu bleiben: Ich glaube, nach Corona wird es sogar einen noch höheren Bedarf, ein noch höheres emotionales Bedürfnis nach Sexualbegleitung geben. Selbst außerhalb der Einrichtungen vermissen wir es ja alle schon, von unseren Freund*innen berührt zu werden – ob freundschaftlich oder sexuell.

Du nutzt die Zeit ohne Termine, um zu schreiben. Du hast vor Kurzem einen Blog gestartet. Wie geht es damit weiter? Welche Impulse willst du geben?

Hauptsächlich wird es um das Thema Sexualbegleitung gehen. Um Dinge, die bei einer guten Sexualbegleitung wichtig sind. Denn immer mal wieder schreiben mich Frauen an, dass sie die Arbeit auch gerne machen wollen, allerdings nicht wissen, wie sie das angehen können. Das Berufsbild ist doch relativ vage und es gibt sehr viel Unsicherheit, ob man sich in dem Bereich selbstständig machen sollte oder könnte und wie das konkret aussieht. Daher möchte ich das Berufsbild ein bisschen besser beleuchten. Aber nicht nur für Personen, die selbst vielleicht als Sexualbegleiter*in arbeiten wollen, sondern auch für die Allgemeinheit: Sexualbegleitung ist einfach noch zu wenig bekannt, als dass man sagen würde: Ah – klar – das kenne ich. Und fremde Sachen sorgen für Irritationen oder sogar Ängste. Je mehr über das Thema gesprochen und geschrieben wird, desto besser kann diese Scheu davor genommen werden.