Luciano wurde nie über Sex aufgeklärt. Weder von seinen Eltern noch von seinen Lehrer*innen. Was es mit dem Geschlechtsverkehr auf sich hat, mussten der Argentinier und seine Freunde deshalb selbst herausfinden – etwa die Erfahrung, dass sich Olivenöl auf dem Penis echt gut anfühlt, Salz hingegen keine so gute Idee ist. Er und seine Freunde masturbierten auch gemeinsam, um zu schauen, ob ihre Körper alle ähnlich reagieren.

Die ersten sexuellen Erfahrungen, an die Momo aus Deutschland sich erinnert, sind ihre Doktorspiele. Sie war damals zwölf und das Mädchen, das neben ihrer Oma wohnte, fragte sie, ob sie ihre Vulva untersuchen dürfe. "Dann nahm sie ein Wattestäbchen und reinigte und berührte sie sehr sanft", berichtet Momo – und das Gefühl gefiel ihr. Fasziniert fragte sie später ihre beste Freundin, ob auch sie zusammen Doktor spielen wollen. Die Freundin stimmte zu. Als das Spiel vorbei war, schämte sich die Freundin jedoch und bestand darauf, dass niemand erfahren dürfte, was sie getan hatten. Das war der Moment, in dem Momo sich fragte: Habe ich etwas falsch gemacht?

Ihr Eltern vermitteln ihr: Sex ist etwas Unreines

Die Geschichten von Luciano und Momo gehören zu einer Reihe von Erzählungen, die die 28-jährige Shauna Blackmon sammelt und auf ihrem Blog Stumbling on Sexuality veröffentlicht. Sie alle drehen sich um Sex – besser gesagt, um die ersten sexuellen Erfahrungen sowie um die Art und Weise, wie mit Kindern über Sexualität gesprochen wird, oder wie in Lucianos Fall eben nicht. Zu Wort kommen nicht nur Hetero-, sondern auch Homo- und Bisexuelle, manche kommen aus Deutschland, andere aus Frankreich, Australien oder den USA.

Ausschlaggebend für das Projekt war Blackmons eigene Erfahrung. Sie selbst ist in den USA aufgewachsen, in Kansas. Auch ihre Familie sprach so gut wie nie über Sexualität. In der Schule lernte Blackmon dann, dass Sex wie Kaugummi sei: "Wenn man jemandem seinen Kaugummi gibt, kaut diese Person ihn gern." Einen benutzten Kaugummi wolle später allerdings niemand mehr. Die Eltern vermittelten dem Mädchen außerdem das Gefühl, dass Sex etwas Unreines sei. Fühlte Blackmon sich dann doch zu einem Jungen hingezogen, schämte sie sich. "Bis heute arbeite ich daran, die Vorstellung, dass Sex etwas Schmutziges ist, aus meinem Kopf zu vertreiben", sagt sie.

Stumbling on Sexuality soll die Schamgefühle auflösen

Der Umzug nach Berlin half ihr, die verschrobene Vorstellung von Sex langsam zu überkommen. Hier, fernab von zu Hause, begann sie das erste Mal offen mit Menschen über Sex zu sprechen. Dabei fiel ihr auf, dass viele ihrer neuen Freund*innen zwar sehr offen über ihr aktuelles Liebesleben berichteten. Erkundigte sie sich jedoch nach den sexuellen Erfahrungen, die sie als Kinder gemacht hatten, gerieten die Gespräche oft ins Stocken. "Der häufigste Grund für das Verstummen war Scham", so Blackmon. Ihrer Meinung nach liegt das auch daran, dass wir so selten über diese Zeit sprechen.

Stumbling on Sexuality soll das ändern. Denn: "Unsere frühkindlichen Erfahrungen prägen unsere Entwicklung und machen uns auch zu dem Menschen, der wir heute sind", ist Blackmon überzeugt. Umso wichtiger sei es, offen und ohne Scham über diese Zeit zu reden.

Mit ihrem Projekt reiht sich Shauna Blackmon ein in eine Bewegung junger Frauen, die Sex und Sexualität so zeigen wollen, wie sie sind: Wenn man Glück hat sehr schön, nicht immer perfekt und manchmal auch irritierend.

Ding, dong, hier geht’s ums Vögeln.
Margarete Stokowski

Einen Anstoß so offen über Sexualität zu sprechen, gab auch die Autorin Lena Dunham mit ihrer Serie Girls im Jahr 2012. In der Serie, in der die junge Frau selbst die Hauptrolle spielt und die auch autobiografische Züge hat, dürfen Brüste auch mal hängen, die Höschen am Hintern zwicken und darf Sex auch mal schlecht sein. Denn guter Sex, dass wird in Girls schnell klar, braucht Übung.

Ähnlich explizit ist auch das Buch Untenrum frei der deutschen Journalistin Margarete Stokowski. Anhand ausgewählter Beispiele zeigt die 31-Jährige zudem, dass die Art, wie wir unseren Körper und unsere Sexualität erleben, auch immer das Resultat eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses ist. So seien "Frauenkörper (…) so sehr mit Sex verbunden, dass ihre bloße Abbildung reicht, um zu zeigen: Ding, dong, hier geht’s ums Vögeln". Ginge es hingegen tatsächlich zur Sache, berichtet Stokowski, herrsche noch immer viel Gehemmtheit, Sprach- und Ahnungslosigkeit.

Sexualaufklärung braucht ein Update

Der Ansicht ist auch Gynäkologin Cornelia Friedrich. In Deutschland wäre es vermutlich ein Skandal, würden Lehrer*innen ihren Schüler*innen erklären, Sex sei wie Kaugummi. In Sachen Sexualaufklärung habe die Bundesrepublik dennoch einiges nachzuholen, findet die Frauenärztin.

Grundsätzlich ist Sexualkunde in Deutschland seit 1968 Teil des Lehrplans. Den ersten Aufklärungsunterricht gibt es in der Regel in der vierten Klasse, in der sechsten folgt die Fortsetzung und in der achten oder neunten Klasse werden die Inhalte vertieft. Da das Schul- und Hochschulwesen in Deutschland Ländersache ist, gibt es jedoch keinen verbindlichen Standard für Sexualkunde.

"Wird in den Klassen dann über Sex gesprochen und erklärt, was Penis und Vagina damit zu tun haben", berichtet Friedrich, "geschieht das oft viel zu technisch und mit erhobenem Zeigefinger." In der Konsequenz lernen die Kinder vor allem, wie sie Kondome richtig benutzen und was zu tun ist, um sich vor ungewollten Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten zu schützen.

"Das ist natürlich wichtig", sagt Gynäkologin Friedrich. Was dabei jedoch oft zu kurz kommt, sei die Tatsache, dass Sex auch Spaß macht und es dabei am Anfang viel ums Ausprobieren und miteinander reden geht – ebenso wie um die Frage, was eigentlich Einvernehmlichkeit beim Sex bedeutet.

"Guter Sex" wird zu oft mit einem "ekstatischen Koitus" gleichgesetzt

Gisela Gille hat an der Sexualkunde in Deutschland hingegen wenig auszusetzen. Als Ärztin ist sie seit Jahren in Schulen unterwegs und unterstützt Lehrer*innen bei der Aufklärung. Ihrer Erfahrung nach verlaufe diese stets sachgerecht und offen. Außerdem dürfe man nicht vergessen, dass Lehrer*innen in ihrem Unterricht immer einer großen Gruppe von Jugendlichen gegenüberstehen – mit teils sehr unterschiedlichen Erfahrungen, Erwartungen und kulturellen Hintergründen. Dementsprechend divers falle auch die Art der Aufklärung aus. Sorge bereitet Gille vielmehr die Tatsache, dass "guter Sex" in der Vorstellung vieler Jugendlicher immer häufiger mit dem Erleben eines Orgasmus und dem Ziel des "ekstatischen Koitus" gleichgesetzt werde. "Das kann Jugendliche leicht unter Druck setzten und auch überfordern", so Gille.

Fest steht: Wird Sexualität als etwas Negatives, wenn nicht gar Schmutziges vermittelt, hat das meist langfristige Folgen: "Kinder, die mit so einer Vorstellung aufwachsen, haben oft das Gefühl, beim Sex etwas Verbotenes und Schlechtes zu tun", sagt Sexualtherapeutin Dorothea Perkusic. Das führe oft zu schweren Blockaden, die Jugendliche in ihrer persönlichen sexuellen Entwicklung hemmen.

Bin ich als Mädchen noch liebenswert und toll, wenn ich nicht durch kurze Penetration oder einmal an die Brust gefasst zum Orgasmus komme? Was ist der Unterschied zwischen einem klitoralen und einem vaginalen Orgasmus? Ist mein Sperma eklig? "Obwohl in der heutigen Zeit viel über Sex gesprochen wird, gibt es tatsächlich nach wie vor zahlreiche Fragen, die viele Jugendliche – ebenso wie manche Erwachsene – sich nicht trauen zu stellen", so Perkusic. Umso wichtiger sei es, dass Schule, Eltern und die Medien Jungen und Mädchen ein facettenreiches Bild von Sexualität vermitteln.

Shauna Blackmon sieht das ähnlich. Stumbling on Sexuality soll deshalb zeigen, wie unterschiedlich junge Menschen ihre Sexualität erfahren – authentisch und fernab der gängigen Stereotype. Teil der Wahrheit ist beispielsweise auch, dass auch Selbstbefriedigung nicht immer so funktioniert, wie manche sich das vorstellen. Als Blackmon sich etwa das erste Mal unter der Dusche selbst befriedigte, war sie nicht nur unheimlich nervös, sondern am Ende auch unglaublich enttäuscht: "Ich dachte, jetzt erlebe ich das große Feuerwerk", erinnert sie sich. Dann stand sie unter der Dusche, steckte sich einen Finger in die Vagina und wartete – doch nichts geschah. Von der Klitoris hatte Blackmon damals noch keine Ahnung.