Fast die Hälfte aller Neunt- und Zehntklässler*innen in Deutschland wurde bereits sexuell belästigt. Das fanden die Unis in Marburg und Gießen vergangenes Jahr in einer repräsentativen Studie heraus, die sich auf sexualisierte Gewalt unter Gleichaltrigen konzentriert. 2700 Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren schilderten hierfür ihre Erfahrungen. Die Studie zeigte auch, dass vor allem Mädchen zur Zielscheibe nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt werden, insbesondere durch sexuelle Witze, Beleidigungen oder Kommentare. Über die Hälfte von ihnen (55 Prozent) gab an, schon sexuell belästigt worden zu sein.

Wie sieht die Situation praktisch aus? Unser 15-jähriger Autor bekommt das an einer Schule in Salzburg, Österreich, jeden Tag mit und berichtet hier von grenzwertigen Instagram-Nachrichten und Jungs, die einfach nicht verstehen wollen, was sie falsch machen.

"Ja, klar. In der Schule greifen mir regelmäßig Mitschüler an den Po. Auf Snapchat bekomme ich anzügliche Kommentare in Bezug auf meine Bilder und oft auch Nacktbilder geschickt. Und einmal hat mir ein Junge in der Bahn einfach unter den Rock fotografiert. Ich dachte, sowas gibt es eigentlich nur in übertriebenen Erzählungen." Diese Antwort gibt mir eine ehemalige Mitschülerin, 15, auf meine Frage, ob sie bereits von Personen in ihrem Alter sexuell belästigt wurde – und sie überrascht mich ehrlich gesagt gar nicht.

Aufgrund meines Alters von 15 Jahren sehe ich selbst jeden Tag, dass sexuelle Belästigung unter Jugendlichen permanent präsent ist. Doch obwohl wir in Zeiten von #MeToo und #Aufschrei leben, spricht kaum jemand darüber. Als junger Mann frage ich mich: Warum gehen wir überhaupt so miteinander um? Und wieso greift niemand ein, wenn junge Mädchen sexuell belästigt werden? Ich habe versucht, mit anderen Jugendlichen über diese Thematik zu sprechen. Spoiler: Es war mühsam.

Belästigung in der Schule

Die Schule ist ein zentraler Punkt sexueller Belästigung unter Jugendlichen. Ein paar Beispiele: Kommt ein Mädchen mit Hotpants und einer Brille zur Schule, ist sie die "Pornoschlampe". Anzügliche Kommentare und Wertungen zur Kleidung gehören zum Alltag. Das Wort "Schlampe" wird sowieso für jegliche Dinge verwendet. Hat sie aus der Sicht der Mitschüler*innen zu wenig an? Schlampe. Sie hat einen neuen Freund? Schlampe. Sie ist nicht mit mir befreundet? Schlampe. Dauerhaft wird die Anzahl der Sexpartner*innen von Mädchen thematisiert. Ist sie Jungfrau, ist sie eine Spießerin. Ist sie keine Jungfrau, eine Schlampe.

Ungefragt erzählen Jungs den Mädchen, mit welchen Mitschülerinnen sie gerne Sex haben würden und wie. Unter den Jungs ist es außerdem üblich, den Po von Mädchen im Schwimmbad, in der Schule oder in den Umkleidekabinen zu fotografieren und die Bilder zu versenden. Ihre Körper werden bewertet und Sexfantasien kommuniziert, sogar in Gruppen. Auch wird Mädchen, die sich bücken, um ihre Schuhe zu binden, regelmäßig an den Po gefasst.

Doch nicht nur die Schule ist ein Ort für sexuelle Belästigung, in den sozialen Medien geht sie weiter, in Form von ungefragten Nackt- und Penisbildern oder anzüglichen Bemerkungen unter den Fotos. Insbesondere auf Instagram und Snapchat sehen sich junge Mädchen täglich mit sexuellen Anzüglichkeiten und Handlungen konfrontiert. "Geiler Arsch", lese ich beispielsweise in den Kommentaren unter Instagram-Posts meiner Mitschülerinnen. Eine Freundin erzählt mir: "Täglich schreiben mich allein zwei bis drei Leute auf Snapchat an. Sie wollen Nacktbilder von mir haben. Viele davon sind Klassenkollegen und Menschen aus meinem Freundeskreis." Das 15-jährige Mädchen zeigt mir ihre Direktnachrichten. Sie hat nicht übertrieben:

Warum Mädchen Vorfälle nicht melden

Immer wieder wird argumentiert, dass solche Vorfälle doch einfach gemeldet werden sollten. So einfach ist das leider nicht. Mädchen, die sich wehren, gelten oftmals als uncool und werden ausgegrenzt. Der Schulalltag wird ihnen zur Hölle gemacht. Möglicherweise nehmen derartige Vorfälle somit sogar zu.

Ich habe das selbst miterlebt. An meiner alten Schule fassten drei Personen einer Mitschülerin wiederholt an den Po. Auch nach mehreren klaren Aussagen, dass sie damit nicht einverstanden ist, reagierten die Jungs nicht. Daher sah sich das Mädchen gezwungen, die Schuldirektorin einzuschalten. Mitschüler*innen solidarisierten sich jedoch nicht mit der Betroffenen, sondern stellten sie als Petze und Spießerin da. Sie wurde ausgegrenzt, weil sie sich gegen Belästigung wehrte. Die drei Jungs kamen mit einer Mahnung und ohne Strafe davon. Sie taten es wieder.

Die Kirsche auf der Sahnetorte war jedoch, als der Exfreund eines Mädchens ein Fakeprofil unter ihrem Namen auf Instagram erstellte. Er lud freizügige Bilder seiner Exfreundin hoch und nahm mit diesem Account mit diversen Leuten Kontakt auf, um ihren Ruf zu schädigen. Passiert ist ihm nichts.

Nicht das Gefühl, etwas falsch zu machen

Als ich andere männliche Jugendliche zu dieser Thematik befrage, ist komischerweise plötzlich jeder ein ambitionierter Kämpfer gegen sexuelle Belästigung, der sich bei jeder Gelegenheit äußert und dagegen eintritt, bis zu dem Moment, wo man ihnen Anonymität bei ihren Aussagen versichert. Es gibt im Normalfall drei Arten, wie sich Jungs in Situationen verhalten, in denen einer ihrer Freund ein Mädchen belästigt.

Selten: Steht einfach dabei und macht nichts. Oft: Lacht und macht nichts. Meistens: Macht mit. Die Begründungen, warum sie sich so verhalten, klingen dann so:

Michael*, 14: "Das ist einfach peinlich. Ich würde ab und an etwas sagen, weil gewisse Dinge nicht gehen, aber ich will vor meinen Freunden nicht als Spaßverderber dastehen."

Sascha*, 15: "Ganz ehrlich? Die Mädchen sollen sich selbst verteidigen. Wenn mir ein Mädchen auf den Arsch greifen würde, könnte ich mich auch verteidigen."

Das gehört doch unter Jugendlichen dazu. Im Endeffekt ärgern wir uns einfach gegenseitig." – Karl*, 15

Max*, 16: ,"Es kommt immer darauf an. Wenn Mädchen im kurzen Rock und einem hautengen T-Shirt zur Schule kommen, dürfen sie sich nicht beschweren, wenn wer einen Kommentar abgibt. Aber sonst find ich sowas nicht cool."

Solidarisiert euch!

Auch ich finde es oftmals schwierig, einzugreifen. Nach unzähligen Aussagen und langwierigen Debatten ohne Nutzen und Einsicht, verliere ich die Kraft, auf jegliche Belästigung einzugehen und die Diskussionen von Null zu beginnen. Ich weiß, es ist falsch, aber ich schaffe es ab und an nicht. Dabei ist wichtig, dass wir den Betroffenen helfen. Nicht, indem wir die Vorfälle melden, sondern indem wir die Betroffenen zur Meldung motivieren und ihnen beistehen.

Sexuelle Belästigung unter Jugendlichen sollte stärker thematisiert werden. In den Klassenzimmern, in den Zeitungen und in den sozialen Medien. Schulen müssen konsequent handeln und Mädchen stärken, sexuelle Belästigung publik zu machen. Und wir Jungs müssen den Scheiß endlich sein lassen.

*Namen von der Redaktion geändert