Die Verkündung des Urteils verfolgte Joanna Malinowska an ihrem Laptop. "Sie haben uns die letzte legale Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch genommen – und damit unser letztes bisschen Würde", sagt die 35-jährige polnische Feministin im Zoom-Gespräch. Joanna lebt in Poznań, der fünftgrößten Stadt Polens, 540.000 Einwohner*innen hat sie, etwa 120.000 davon sind Studierende. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań. Wie an vielen Orten Polens gehen auch hier seit dem 22. Oktober 2020 immer wieder Tausende Menschen auf die Straße – an diesem Tag hatte das polnische Verfassungsgericht seine Entscheidung verkündet, dass ein Schwangerschaftsabbruch bei schwerer Fehlbildung des Ungeborenen nicht durch das polnische Gesetz gedeckt sei – und damit verboten.

Die Situation für ungewollt Schwangere war schon vorher verheerend.
Joanna

Fast alle legalen Abbrüche in Polen werden mit dieser Diagnose begründet. 1.074 der 1.110 Abbrüche, die 2019 in polnischen Kliniken vorgenommen wurden, wurden aufgrund dessen vorgenommen. Denn schon vor der Entscheidung des Verfassungsgerichts vom Oktober hatte Polen eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze in Europa. Abtreibungen waren nur im Fall einer Vergewaltigung, bei Gefahr für das Leben der Gebärenden oder eben bei schweren Fehbildungen des Ungeborenen erlaubt. "Die Situation für ungewollt Schwangere war schon vorher verheerend. Selbst nach einer Vergewaltigung war es unglaublich schwer, eine*n Ärzt*in zu finden, der*die einen Abbruch durchgeführt hat", sagt Joanna. Die Entscheidung vom 22. Oktober komme nun einem vollständigen Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen gleich.

"Die erlaubten Gründe für eine Abtreibung waren das letzte Fünkchen Hoffnung für Frauen, die für ihr Recht auf Selbstbestimmung kämpfen", sagt Joanna. "Mit der Entscheidung haben die Richter*innen es ihnen innerhalb weniger Minuten genommen." Sofort nach der Urteilsverkündung nahm sie Kontakt zu anderen Aktivist*innen in Poznań auf, die noch am selben Abend das erste Mal auf die Straße gingen – zunächst allerdings ohne Joanna. Sie hat Asthma und war erst zwei Tage vorher aus dem Krankenhaus entlassen worden, wo sie wegen des Verdachts auf Covid-19 gewesen war. An diesem ersten Abend blieb ihr deshalb nur, den Protest aus ihrem Zimmer mitzuorganisieren. Doch am nächsten Tag sei für sie klar gewesen, dass sie nicht weiter zu Hause sitzen konnte.

Joanna gegen das Patriarchat

Joanna ist es gewohnt, zu demonstrieren. Sie ist seit fast 20 Jahren feministisch aktiv und organisiert regelmäßig Demonstrationen, Kundgebungen und andere Formen politischen Protests mit: "Die polnische Regierung ist mehr oder weniger konservativ, seit ich mich erinnern kann. 2003 habe ich angefangen, mich in der feministischen und anarchistischen Bewegung in Poznań zu engagieren. Inspiriert dazu hat mich meine große Schwester Magda, die damals schon aktiv war." Seitdem kämpft Joanna gegen die Unterdrückung, die für sie vom polnischen Staat ausgeht: gegen die katholische Kirche, das Patriarchat und das kapitalistische System. Was das für Joanna konkret heißt? "Polnische Frauen benötigen Zugang zu Abtreibungen, Verhütung, pränatale Betreuung, Sexualaufklärung und Sozialhilfe", sagt sie, "dazu gerechte Löhne, gute Arbeitsbedingungen und Schutz vor Gewalt."

Auch am 3. Oktober 2016 war Joanna beim Czarny Protest dabei, dem Schwarzen Protest gegen eine damalige Gesetzesinitiative für ein Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. Auch damals gingen viele Tausend Menschen in Polen auf die Straße und in vielen europäischen Städten gab es Solidaritätskundgebungen. Das damals geplante Abtreibungsverbot wurde am Ende nicht umgesetzt. Wirkliche Erleichterung empfand Joanna aber nicht: "Wir haben nicht gewonnen, wir haben nur für den Moment verhindert, dass es noch schlimmer wird."

Eine Massenbewegung ohne Anführer*innen

Vier Jahre später, am 23. Oktober 2020, stand Joanna wieder auf der Straße, und zwar mit Megafon. "Wir waren völlig überrascht davon, wie viele Menschen an diesem Tag gekommen waren. Alle hatten darauf gewartet, dass jemand die Demonstration anführt. Also habe ich das Megafon genommen. So haben wir angefangen." Trotzdem will Joanna sich nicht als Anführerin der Proteste sehen. Für sie – und für viele andere Aktivist*innen – sind die derzeitigen Proteste eine Graswurzelbewegung, die von all den Menschen lebt, die überall in Polen immer wieder demonstrieren, auf Plätzen, vor Häusern von Politiker*innen, und ihren Protest sogar in die Kirchen tragen – was bisher in Polen undenkbar war.

So versammelten sich am Wochenende nach der Verkündung des Urteils in Poznań beispielsweise 20 Aktivist*innen für einen Sitzstreik vor dem Altar des Doms. Der Gottesdienst musste abgebrochen werden. In einem Land, in dem fast 90 Prozent der Menschen der katholischen Kirche angehören, ein Novum. "Es ist das erste Mal, dass Frauen und die junge Generation der Kirche sagen: 'Wir haben genug von eurem Bullshit. Ist uns egal, was ihr denkt, denn ihr versucht, uns unsere Freiheit zu nehmen. Und das lassen wir nicht zu'", sagt Joanna.

Und die Proteste zeigen Wirkung. Damit das Urteil in Kraft treten kann, müsste die Regierung eine offizielle Verlautbarung veröffentlichen. Bislang hat sie dies nicht getan. Die Deadline dafür am 2. November hat die Regierung verstreichen lassen. Joanna sagt, es sei schon ein großer Erfolg, dass die Regierung damit zögert. Aber wirklich freuen kann sie sich darüber nicht, denn sie ist überzeugt, dass die Regierung auf Zeit spielt, um einen Kompromiss zu finden. Egal, wie der ausfalle, die Lage für ungewollt Schwangere werde sich nicht verbessern, sagt sie.

Das Schlimmste, was passieren kann, ist Tränengas. Und das sind auch nur 15 Minuten weinen und dann ist es vorbei.
Joanna

Joanna und die anderen Aktivist*innen protestieren seit vier Wochen fast jeden Tag. Das zehrt an den Kräften, physisch und psychisch. "Am Anfang waren wir ungefähr 40.000 Menschen auf der Straße. Mittlerweile ist es eine kleinere Gruppe – wegen Corona, wegen des Wetters und weil alle müde sind." Und so versuchen sie, unterschiedliche Formen des Protestes möglich zu machen, so dass für jede*n etwas dabei ist: Sie haben bei einer Performance in einem stillgelegten Krankenhaus symbolisch eine Abtreibungsklinik eröffnet, es gibt Fahrraddemos und immer wieder kleine, spontane Versammlungen. Joanna konnte nicht jedes Mal dabei sein, zwischendurch hatte sie gesundheitliche Probleme. Andere wurden aktiver, sodass sie sich zurückziehen konnte, sagt sie.

Angst vor Polizeigewalt und Repressionen hat sie nicht – in den letzten Wochen hat sie die auch nicht erlebt. Ihr jahrelanges Engagement hat sie aber abgehärtet: "Das Schlimmste, was passieren kann, ist Tränengas. Und das sind auch nur 15 Minuten weinen und dann ist es vorbei."

Die Jungen gehen auf die Straße

Die aktuellen Proteste sind die größten, die Polen seit den Achtzigerjahren erlebt hat – und das mitten in der Corona-Krise. "Das Gefährlichste gerade ist die Pandemie", sagt Joanna. Auch wenn bei den Demonstrationen fast alle Masken trügen und sich rücksichtsvoll verhielten, wolle sie nicht, dass sich jemand gezwungen fühle, mitzudemonstrieren. Verantwortung empfindet sie vor allem ihren Studierenden gegenüber. Viele davon seien Erst- oder Zweitsemester, 18 oder 19 Jahre alt, wohnten noch bei ihren Eltern: "Ich habe meinen Studierenden klargemacht, dass es okay ist, nicht zu protestieren, wenn sie das Gefühl haben, sich oder ihre Familie in Gefahr zu bringen."

Zu Beginn des Protests hat Joanna zwei ihrer Seminare abgesagt und stattdessen mit den Studierenden über die Proteste geredet, weil sie so viele Fragen hatten. "Für viele von ihnen war es das erste Mal, dass sie protestieren gegangen sind. Ich habe versucht, ihnen zu erklären, was passiert, ohne sie unter Druck zu setzen. Und sie haben sich geöffnet und von ihren eigenen Erfahrungen berichtet. Manche von ihnen erleben in ihren Elternhäusern selbst Diskriminierung, weil sie homosexuell sind, die katholischen Werte ihrer Eltern nicht teilen oder ihr Leben anders leben wollen. Sie wollen unbedingt auf die Straße."

Ich glaube, wir sehen gerade eine neue, viel offenere Generation, in der es normal ist, dass Freund*innen homosexuell sind oder Schwangerschaftsabbrüche haben.
Joanna

Wenn man Joanna fragt, wann sie sich in den letzten Wochen am stärksten gefühlt hat, sind es diese Momente: "Die Perspektiven der jüngeren Generation kennenzulernen und mitzuerleben, wie energisch sie mitdemonstrieren und sich solidarisch zeigen, das war sehr bewegend für mich." Es gibt ihr die Hoffnung, dass die Proteste dieses Mal wirklich etwas verändern könnten: "Ich glaube, wir sehen gerade eine neue, viel offenere Generation, in der es normal ist, dass Freund*innen homosexuell sind oder Schwangerschaftsabbrüche haben. Die Leute schauen viel Netflix und sehen, dass die Welt ganz anders sein kann, als sie es aus Polen kennen. Sie fühlen sich frei. Und als das Verfassungsgericht sein Urteil gesprochen hat, haben sie sich zu Recht so gefühlt, als würde man ihnen ihre Freiheit nehmen."

Eine Einschätzung, die auch ältere Aktivistinnen wie Joannas Schwester, die poznańische Stadträtin Marta Mazurek und Klementyna Suchanow, die Mitgründerin der Initiative Strajk Kobiet (Allpolnischer Frauenstreik) teilen. "Gerade findet in Polen eine Revolution der Generation Z statt. Die junge Menschen kämpfen für ihre Zukunft. Die polnische Gesellschaft verändert sich, und die Veränderung geht von diesen jungen Menschen aus", sagt Suchanow.

Ich hoffe, dass ich etwas verändere.
Joanna

Auch für deren Zukunft geht Joanna fast jeden Tag auf die Straße: "Für meine Studierenden. Für all die Frauen, die Angst haben, mit ihren Partnern, ihren Familien und Freund*innen über Abtreibungen zu sprechen. Für all die Frauen, aus kleinen Städten, die nicht wissen, was sie im Falle einer ungewollten Schwangerschaft tun können. Für all die Frauen, die denken, dass sie alleine in dieser Situation sind."

Natürlich ist ihr auch ihr eigenes Recht auf körperliche Selbstbestimmung wichtig, aber sie fühlt sich im Vergleich zu anderen privilegiert: "In der Großstadt haben wir hier die richtigen Kontakte und wissen, was wir tun müssen, wenn wir eine Abtreibung brauchen. Aber auch die Frauen auf dem Land brauchen Informationen."

Auf die Frage, ob sie glaubt, dass sie gerade etwas verändert, zögert Joanna kurz. "Ich hoffe, dass ich etwas verändere. Wie groß die Veränderung sein wird, weiß ich nicht. Aber wenn nur ein paar Frauen durch die Proteste herausfinden, wo sie im Notfall Unterstützung bekommen können, verändert das ihre Realität. Wenn mein Protest nur ein Leben verändert, ist das für mich schon genug."