Ihre Lebensgeschichte ist wie ein Puzzle. Andere Menschen wissen, wer ihre Familie ist und wo ihre Wurzeln liegen; Regula Brühwiler-Giacometti musste Teilchen sammeln und nach und nach zusammenfügen. Aber mit dem Bild, das sich daraus ergab, hätte sie nicht gerechnet.

Regulas leibliche Mutter hatte Ende der 1950er-Jahre eine Affäre mit einem verheirateten Mann und wurde schwanger. "Ich bin das Kind aus dieser Verbindung – ein Seitensprungkind, das zur Adoption freigegeben wurde", erzählt die heute 61-jährige Übersetzerin aus der Schweiz. "Ich war sechs Wochen alt, da kam ich in eine Einrichtung." Kurz darauf wurde sie vorübergehend bei Pflegeeltern untergebracht, bis sie bei ihrer dauerhaften Familie landete.

Regula wuchs in Lugano bei den Giacomettis auf, ging zur Schule, lernte einen Beruf, heiratete. Aus ihrer Adoption haben ihre Eltern nie ein Geheimnis gemacht. 1986 wurde sie selbst Mutter – und wollte mehr über ihre Herkunft erfahren, die fehlende Kontinuität wieder herstellen. "Ich habe versucht, meine Mutter über die Adoptionsstelle zu finden. Die haben meine Adresse weitergegeben und dann hat sie mir einen Brief geschrieben. Darin stand, dass sie bereit sei, mich zu treffen."

Ich habe nicht instinktiv gespürt, dass sie meine Mutter ist.
Regula Brühwiler-Giacometti

Eine aufwühlende Zeit für Regula: "Ich war nervös. Ich wusste ja nicht, was das für ein Mensch ist." Sie traf ihre leibliche Mutter zum ersten Mal, als sie 30 Jahre alt war, am Zürcher Bahnhof. "Das war sehr, sehr emotional, eine Mischung aus vielen Gefühlen", erzählt Regula heute. Die Begegnung war für beide nicht einfach. Und auch anders, als man es aus Büchern und Filmen kennt: "Wir waren relativ distanziert, sind uns nicht tränenüberströmt in die Arme gefallen. Ich habe nicht instinktiv gespürt, dass sie meine Mutter ist."

Die beiden unterhielten sich auch über Regulas leiblichen Vater. "Sie erinnerte sich nicht mehr genau an ihn. Nur daran, dass er blaue Augen hatte und sympathisch und lustig war. Den Namen wollte sie mir nicht sagen, weil sie es ihm versprochen hatte." Er war ein verheirateter Mann, Regula das Resultat einer Affäre. Doch das war längst nicht das einzige Geheimnis ihrer Mutter.

Wegen der Schwangerschaften geschämt?

Regula schrieb das Buch Seitensprungkind über ihre Geschichte und Erfahrungen als Adoptivkind und ihre Suche. Die Veröffentlichung veränderte ihr Leben. Zuerst wurde sie über die Adoptionsstelle von einer Schwester kontaktiert, die sich ihrerseits auch auf die Suche nach ihren Wurzeln gemacht hatte. Sie erzählte Regula von weiteren Schwestern und Brüdern – insgesamt waren da plötzlich sieben neue Geschwister: "Ich bin aus allen Wolken gefallen", so Regula.

Ihre Mutter hatte verschwiegen, dass sie noch andere Kinder zur Welt gebracht hat: "Es gab vor mir drei Kinder aus einer vorherigen Ehe, die konnten auch nicht bei ihr bleiben. Und nach mir gab es noch vier jüngere Kinder. Fast alle haben einen anderen Vater", sagt sie.

Plötzlich sieben neue Geschwister zu haben, das war ein unglaubliches Gefühl.
Regula Brühwiler-Giacometti

Sie hat Verständnis für die damalige Situation ihrer Mutter: "Das war sehr schwierig für sie. Wahrscheinlich hat sie jedes Mal gehofft, das wäre jetzt die große Liebe. Sie war geschieden, alleinstehend, in finanzieller Not und überfordert." Und darum konnte sie keines ihrer Kinder behalten, wie Regula sagt: "Sie hat nicht viel erzählt darüber, warum sie uns weggegeben hat. Aus den Unterlagen geht hervor, dass es vor allem wirklich aus finanzieller Not war. Wir glauben, sie hat sich wegen der vielen Schwangerschaften geschämt."

Es gab nach dem ersten nur noch ein weiteres Treffen zwischen Regula und ihrer Mutter, bevor sie vor 11 Jahren starb. Ihr leiblicher Vater ist, wie Regula später herausfand, schon vor 40 Jahren gestorben. Doch Regula hat inzwischen ihren Frieden mit ihren leiblichen Eltern und ihrer Geschichte gemacht: "Es ist okay so, wie es ist."

Neue Geschwister mit starker Verbundenheit

Auch ihre Adoptiveltern leben heute beide nicht mehr. Doch allein ist Regula nicht: "Plötzlich sieben neue Geschwister zu haben, das war ein unglaubliches Gefühl", erzählt sie. "Wenn man nicht weiß, dass sie existieren und es erst mit 60 Jahren herausfindet. Das war eine riesige Freude, gemischt mit Überraschung und Neugier."

Am Anfang mischte da auch ein wenig Unsicherheit mit – es hätte ja durchaus sein können, dass nicht alle offen für die neue XXL-Verwandtschaft sind. "Wenn sie ablehnend reagiert hätten, dann wäre das zwar schade gewesen, aber ich hätte es akzeptiert", sagt Regula. "Es ist nicht leicht, in so eine Situation geworfen zu werden. Ich hätte es verstanden, denn erzwingen kann man nichts."

Wir verurteilen unsere Mutter nicht. Niemand von uns kannte sie wirklich.
Regula

Das war allerdings nicht der Fall, die Neugier aufeinander war riesig. Sie telefonierten und trafen sich; alle leben in der Schweiz, zum Teil gar nicht so weit weg voneinander. "Man guckt nach Ähnlichkeiten, das ist sehr spannend und aufregend. Das war für uns alle wichtig, diese Ähnlichkeiten zu finden", erzählt Regula. "Und das, obwohl wir uns ganz fremd waren."

Neben den äußerlichen Ähnlichkeiten entdeckten die Geschwister nach und nach Gemeinsamkeiten und geteilte Vorlieben, aber auch Unterschiede. Sie lernten sich kennen und schlossen einander ins Herz. "Das sind ganz tolle Geschwister. Wir haben eine starke Verbundenheit", sagt Regula. Und die ist – genau wie bei Geschwistern, die zusammen aufwachsen – auch nicht zwischen allen gleich stark: "Am nächsten stehen mir Mathias und Regina. Da ist eine ganz tolle Beziehung entstanden."

"Schön, dass wir uns gefunden haben"

Alle der insgesamt acht Geschwister haben Heim- oder Adoptiv-Erfahrungen gemacht. "Jede Geschichte ist einzigartig. Aber aus allen ist etwas geworden, alle haben ihren Lebensweg gefunden", sagt Regula. Über diese Wege hat sie in ihrem zweiten Buch Plötzlich Familie geschrieben.

Das Puzzle ist noch immer nicht vollständig und wird es wohl auch nie ganz sein. Aber wenn man Regula zuhört, wird klar: Das muss es auch nicht. Im vergangenen Jahr sind fast alle Geschwister zusammen auf den Friedhof gefahren, auf dem ihre Mutter begraben ist. "Das war ein sehr emotionaler Moment. Wenn sie uns hätte sehen können, wie wir alle zusammen an ihrem Grab stehen, da hätte sie sicher gestaunt", sagt Regula und in ihrer Stimme klingt ein Lächeln an. "Wir verurteilen unsere Mutter nicht. Niemand von uns kannte sie wirklich. Wir finden es schön, dass wir uns gefunden haben."

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